Trotz des massiven Widerstands gegen den allgemeinen Mindestlohn erwartet Verdi-Chef Frank Bsirske, dass die Koalition keine Änderungen am Gesetz vornimmt. Er vertraue auf die Zusagen der SPD. Seinerseits fordert er eine Anhebung in Richtung zehn Euro.

Seit fast vier Monaten gilt die gesetzliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde – seither steht sie unter Druck von Teilen der Union und der Wirtschaft. Am Sonntagabend berät der Koalitionsausschuss über Änderungsbedarf. Verdi vertraut darauf, dass die SPD standhält.
Herr Bsirske, das noch junge Mindestlohngesetz ist bereits hochumstritten. Sind die Gewerkschaften in der Defensive?
Es läuft eine Kampagne, den Mindestlohn als Bürokratiemonster zu diffamieren – anhand einer Vorschrift, die seit 20 Jahren im Arbeitszeitgesetz steht. Als sei die Regelung, Beginn und Ende der Arbeitszeit zu dokumentieren, ein Akt unzumutbarer Regulierungswut. Das ist, mit Verlaub gesagt, Bullshit. Es zeigt, dass manchen Leuten nichts zu blöd ist, um es nicht doch zu präsentieren. Denn klar ist, dass man die Einhaltung eines Mindeststundenlohns nur kontrollieren kann, wenn man Arbeitszeitbeginn und Ende erfasst. Ich habe den Eindruck, dass da eine Scheindebatte inszeniert wird, um den Boden zu bereiten für etwas Anderes: für die nächste Runde der Auseinandersetzung über offene Vereinbarungen der großen Koalition.
Was meinen Sie?
Möglicherweise kommt bald eine Kontroverse über das gesetzliche Verbot des Streikbrechereinsatzes von Leiharbeitskräften und über die Rechtsprechung zu Scheinwerkverträgen und Scheinselbstständigkeit. Dies wird wohl im zweiten Halbjahr Gegenstand einer Gesetzesinitiative der Bundesarbeitsministerin, die an der Stelle den Koalitionsvertrag umsetzt. Auch setzen die Wirtschaftsverbände alles daran, dass Deutschland bei der Besteuerung großer Erbschaften und Vermögen eine Steueroase bleibt, obwohl das Verfassungsgericht die Privilegierung des ererbten Betriebsvermögens für verfassungswidrig erklärt hat.
Wie wirkt das Mindestlohn-Gesetz in Ihren Augen bisher konkret?
Knapp vier Millionen Menschen sind im Lohn angehoben worden – im vorigen Jahr hatten wir noch 1,2 Millionen Arbeitsverhältnisse mit Stundenlöhnen unter fünf Euro. Das war arbeitende Armut, nichts anderes. Nun hat sich herausgestellt, dass sich all die Horrorvisionen nicht bestätigen. Noch im Frühjahr 2014 haben interessierte Kreise den Verlust von 900 000 Arbeitsplätzen an die Wand gemalt. Als sich dies nicht festsetzte in der Bevölkerung, hat man die Platte gewechselt und im Herbst, als die Konjunkturprognosen vorsichtig nach unten korrigiert wurden, von einer Mindestlohnflaute gesprochen – obwohl das Gesetz noch gar nicht in Kraft war. Mittlerweile haben wir eine optimistische Sicht auf die Konjunktur, daher wird erneut die Platte gewechselt. Jetzt ist die Rede vom Bürokratiemonster , was wiederum die CSU ermuntert, ein ganzes Bündel von Forderungen zu erstellen, die das Gesetz aushöhlen sollen.
Haben Sie Beispiele?
Da wird gefordert, Minijobs generell von der Dokumentationspflicht auszunehmen und Zeitungszusteller auch dann nicht einzubeziehen, wenn sie zusätzlich Briefe austragen. Da wird gefordert, Praktika über drei Monate hinaus auszunehmen und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit stellenmäßig nicht aufzustocken. Und falls es doch zur Aufstockung käme, soll dies einer intensiveren Kontrolle von Flüchtlingen dienen. Das ist alles Käse.
Wird der Mindestlohn wirksam kontrolliert – erfüllt der Zoll seine Aufgaben?
Bis 2016 sind 1600 zusätzliche Stellen geplant. Die personellen Voraussetzungen sind noch nicht erfüllt. Wobei ich zunächst davon ausgehe, dass die große Mehrheit der Arbeitgeber sich gesetzestreu verhält. Zwar machen wir über die Mindestlohn-Hotline des DGB die Erfahrung, dass der eine oder andere Arbeitgeber versucht zu tricksen – etwa wenn ein Taxiunternehmen die 8,50 Euro nur für Fahrtzeiten und nicht für Standzeiten bezahlen will. Woanders wird erwartet, ohne Lohn länger zu arbeiten. Dies sind Versuche, das Gesetz zu missachten. Insgesamt ist die Einführung des Mindestlohns breit akzeptiert – auf der Arbeitgeberseite ebenso wie in der Gesellschaft.
Der SPD-Chef und die Arbeitsministerin versichern, dass es keine Gesetzesänderungen geben soll. Vertrauen Sie darauf, dass beide dem Druck aus der Union standhalten?
Das ist die feste Zusage, die wir von Sigmar Gabriel und Andrea Nahles erhalten haben. Ich habe nicht den geringsten Anlass, daran zu zweifeln. Was möglicherweise kommt, ist der Versuch, Ehrenamtlichkeit zu definieren, wobei von vorneherein klar war, dass es nicht darum geht, einen Jugendtrainer der Mindestlohnpflicht zu unterwerfen. Ansonsten gehe ich davon aus, dass am Gesetz nichts geändert wird.
Sehen Sie auch Nachbesserungsbedarf?
Ja, natürlich. Nahles hat darauf hingewiesen, dass das Gesetz den Arbeitnehmern helfen soll, ihre Würde zu bewahren. Würde kennt keine Ausnahme – das gilt auch für Langzeitarbeitslose, für unter 18-Jährige und für Zeitungszusteller. Wenn nun diese Ausnahmen auf ihre Plausibilität hin überprüft werden, besteht definitiv Nachbesserungsbedarf. Zudem sollten wir dazu kommen, dass der Mindestlohn bald das Niveau der westeuropäischen Nachbarländer inklusive Großbritannien erreicht. Die nächste Anhebung ist für 2017 avisiert. Dies ist eigentlich schon sehr spät. So sollte der Mindestlohn in schnellen Schritten in Richtung zehn Euro angehoben werden.