Helene Fischer tritt in der kommenden Woche zwei Mal in der ausverkauften Schleyerhalle auf. Grund genug, sich mit ihrem schier unglaublichen Erfolg zu beschäftigen. Der Volksliedexperte und Ex-Zupfgeigenhansel Erich Schmeckenbecher hält nicht viel von Liedern wie „Atemlos“. Ein Interview.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Da singen alle mit, da beherrschen Millionen Deutscher den Text: Der Schlager „Atemlos“ von Helene Fischer ist das populärste Lied dieses Jahres. Zeit, beim Liedexperten Erich Schmeckenbecher in Lorch nachzufragen, was er von alledem hält.

 
Herr Schmeckenbecher, unzählige Menschen können das Lied „Atemlos“ von Helene Fischer mitsingen. Das muss Sie doch freuen.
Teils, teils!
Gemeinsam mit Thomas Friz haben Sie als Duo Zupfgeigenhansel über viele Jahre daran gearbeitet, ihrem Publikum die Tradition der Lieder neu zu vermitteln. Und nun singen die Deutschen endlich wieder.
Gut so, einerseits, denn singen ist gesund. Allerdings möchten der Verstand und die Seele dabei nicht völlig verdorren.
Helene Fischer. Foto: dpa
Warum können Sie „Atemlos“ nicht einfach als modernes Volkslied sehen?
Weil es keine Wurzeln, keine gewachsene Geschichte hat. Es ist nur eine pragmatische, künstliche Marktware, wie so vieles heutzutage. Der Profit steht im Vordergrund. Dagegen stehen Volkslieder mit ihren romantischen Traditionen, die neben den rein ästhetischen Werten immer auch eine historische Komponente aufweisen. Sie wollen aufwecken, nicht ablenken. Sie stehen in einem geschichtlich wie sozialen Zusammenhang. Popschlager tun das nicht. Die sind nur gefühlig, oft kitschig. Akustische Schwellkörper, die ohne Technik sofort in sich zusammenbrechen. Eben eine auf den Rahmen des Geschäftsmodells pragmatisch eingedampfte Schein-Idylle, die als Romantik verkauft wird. Für mich ist immer noch das klassische Volkslied Vorbild. Echte Romantik eben. Ich will erspüren und nachvollziehbar machen, was aus den Menschen selbst an Geschichten und Gefühlen spricht, mit allen Träumen und Wünschen, bei Tag, bei Nacht.
Helene Fischers „Atemlos“ spielt ja gerade in der Nacht. Im Text heißt es: „Lust pulsiert auf meiner Haut. / Atemlos durch die Nacht, / Spür‘ was Liebe mit uns macht. / Atemlos, schwindelfrei, großes Kino für uns zwei.“
Du meine Güte. Mir wird schon ganz schwindelig. Vergleicht man diese Worte zum Beispiel mit dem Gedicht „Die Nacht“ von Joseph von Eichendorff, liegen dazwischen Galaxien. „Die Berg im Mondesschimmer / wie in Gedanken stehen, / und durch verworr’ne Trümmer / die Quellen klagend gehen“. Hier flicht Eichendorff mal eben ein Symbol für die Abkehr vom damaligen Feudalismus ein, mit all dem Leid, den dieser bei den Menschen hinterlassen hat. Darüber stehen die Nacht und der Wald als Synonym für Rückzugsgebiete von Verfolgten aller Art, natürlich mit der Sehnsucht und der Hoffnung auf bessere Zeiten: „Die Stern’ gehen auf und nieder – / Wann kommst du, Morgenwind, / Und hebst die Schatten wieder / Von dem verträumten Kind?“ Bei dieser Poesie kann man den Unterschied zwischen Kultur und schlichtem Spektakel ganz leicht erkennen.
Der Eichendorff ist wunderschön, keine Frage. Aber die Menschen begeistern sich nun mal gerade mehr für Helene Fischer.
Ja, das ist halt auch eine Frage der Neugier, der Bildung, nicht nur des Geschmacks. Vor allem des Respekts vor der eigenen, guten Geschichte, sofern diese überhaupt noch bekannt ist. Vor lauter Atemnot haben wir die Verbindung zu unseren alten Liedern und Gedichten, zu unseren Wurzeln fast völlig verloren. Ein großer Verlust, den wir noch bitter bereuen werden! Es spricht Bände, wenn selbst ein renommiertes Archiv wie das Volksliedarchiv in Freiburg sich nun in „Zentrum für Populäre Kultur und Musik“ umbenennt, weil man dort nun auch lieber die Rezeption von Popmusik zum Thema macht als Gegenwart und Geschichte von Volksliedern.
Hat man nicht auch ein Recht, gut unterhalten zu werden?
„Unterhaltung“ kommt, wie das Wort schon andeutet, erst unter, also nach der Haltung. Und weil Letztere bekanntlich weit unbeliebter ist, haben sich unsere Medien ganz pragmatisch längst auf dieses „da drunter“ eingestellt, um noch seichteren Weg zur fetten Quote zu finden, mit Hollywood als alles überstrahlendem Vorbild.
Schon verstanden, dagegen setzen Sie den Furor des Romantikers. Aber wie verhindern Sie, dass dabei Traditionsbewusstsein wieder in unheilvolle Heimattümelei abstürzt?
Die Tradition des Volksliedes hat überhaupt nichts mit Heimattümelei zu tun! Es gab in Deutschland auch Aufruhr und Revolutionen, getragen durch die Tradition des Volksliedes! Damit wurde aufgestauter Dampf abgelassen und Dampf gemacht. Man stand mit beiden Beinen auf der Erde, aber mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben. Brunzdumm, wer heute Volkslieder oder Tradition immer noch mit Nazis verbindet. Vor ein paar Wochen war ich im Naturtheater Heidenheim. Dort traten mitten im Stück „Blues Brothers“ plötzlich ein paar als Neonazis verkleidete Schauspieler auf und sangen „Im Frühtau zu Berge.“ Mir blieb die Spucke weg. Und als ich mich hinterher beschwert habe, bekam ich von den Jungregisseuren die naiv-rotzige Antwort, es sollte lustig sein.
Und das war es nicht?
Nein, wie denn? „Im Frühtau zu Berge“ ist gar kein deutsches, es ist ein schwedisches Wanderlied!
Tatsache bleibt, die Menschen haben ein Recht, sich ihre Lieblingsmusik selbst auszusuchen.
Natürlich! Es darf jeder, wie er will und was er will, nach Herzenslust im Rahmen der Gesetze in Anspruch nehmen, auch Dummheit. Sie ist ein Menschenrecht. Und genau darin liegt die Gefahr, dass der Einzelne sich auf seiner Suche nach Freiheit um die damit verbundene Verantwortung drücken möchte und sie deshalb lieber mit Bequemlichkeit und Dauerparty verwechselt. Wir leben immer mehr in einer Diktatur des Gefälligen.
Wer ist der Herrscher in dieser Diktatur?
Jedenfalls weder Sie noch ich, sondern die Spieler am Markt. Verlierer sind am Ende allerdings wir alle. Jedenfalls die meisten. Opfer sind zuerst aber unsere Tradition samt den Liedern, also unsere Identität. Die haben nun ausgedient. Das alles ist natürlich eine neue Form der Diktatur. Hier wird nicht mehr repressiv beherrscht, sondern schick verführt. Man macht nicht mehr gefügig, sondern abhängig. Nur so ist das neoliberale System weiterhin erfolgreich und stabil. Es beherrscht das Ich. Es macht aus uns wandelnde Ich-AGs, Unternehmer in eigener Sache. Jedoch mit ungleichen Chancen.
Und wer hilft dem „Ich“?
Eigentlich das „Wir“. Die große politische Frage lautet heute: wer schützt mich vor dem, was ich will? Wie finden wir wieder Wurzeln, eine Identität, die aus dem heutigen, in jeder Hinsicht destruktiv konkurrierenden „Ich will“ wieder ein konstruktiv entspanntes „Wir bräuchten“ macht?
Wie erreicht man das, ohne in Pragmatismus zu verfallen?
Indem man immer wieder neu nach Gemeinsamkeiten forscht und darauf aufbaut. Hier ist Kreativität gefragt und echte Romantik. Das ist im Übrigen auch die Aufgabe und Verantwortung von Künstlern, hier Vorschläge zu machen, und nicht nur unter großem Beifall atemlos und schick durch die Nacht zu hetzen. Es ist wie beim Bogenschießen. Wenn man bei diesem Sport alle Bewegungsabläufe richtig macht, wenn sie aus dem Inneren kommen und in Einklang sind, dann triffst du ins Ziel, ohne wirklich zielen zu müssen.
 
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, Lorch liege auf der schwäbischen Alb. Richtig ist: Lorch liegt im Ostalbkreis.