Volksabstimmung über Stuttgart 21: Winfried Kretschmann plädiert im StZ-Interview für die behutsame Öffnung der Verfassung für mehr direkte Demokratie.

Stuttgart - Die Kampagne zur Volksabstimmung über Stuttgart 21 nimmt Fahrt auf. Die ersten Plakate hängen; Gegner und Befürworter planen ihre Veranstaltungen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann resümiert im StZ-Interview, wie es zur Volksabstimmung kam und was er sich von ihr erhofft.

 

Herr Ministerpräsident, wird sich bei der Volksabstimmung am 27. November entscheiden, ob Stuttgart 21 gebaut wird - oder eben nicht?

Im Kern schon. Das Volk hat an diesem Tag das letzte Wort über die Zuschüsse des Landes für dieses Projekt. Wenn das Ausstiegsgesetz eine Mehrheit findet, dann kann die Bahn zwar ungeachtet des Bürgervotums weiterbauen, doch halte ich es für ausgeschlossen, dass sie dies tatsächlich tut.

Wie halten Sie es, wenn sich eine Mehrheit für die Kündigung ausspricht, aber das Zustimmungsquorum verfehlt wird?

Dann ist das Kündigungsgesetz trotzdem gescheitert. Die Verfassung sieht ein Zustimmungsquorum von einem Drittel der Wahlberechtigten vor, und die Verfassung gilt. Davon unberührt bleibt allerdings der Kostendeckel. Der liegt bei 4,5 Milliarden Euro. Das haben wir im Koalitionsvertrag gemeinsam so festgelegt. Das Land beteiligt sich an keinen Mehrkosten, die über diesen Betrag hinausreichen. Das gilt auch für den Fall späterer Kostensteigerungen. Da sind wir übrigens nicht allein. Auch die Stadt Stuttgart und der Bund als weitere Projektpartner haben bereits angekündigt, bei künftigen Kostensteigerungen nicht als Finanzier zur Verfügung zu stehen.

Stuttgart 21 ist parlamentarisch legitimiert - vom Stuttgarter Gemeinderat über den Landtag bis hin zum Bundestag. Die Gerichte wurde angerufen; sie haben das Projekt passieren lassen. Wieso braucht es da die Volksabstimmung?

Stuttgart 21 hat sehr spät zu einem schweren Konflikt geführt. Um diesen Streit zu befrieden und abzuschließen, hat jetzt das Volk das letzte Wort. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Parlamente - was die Kosten angeht und auch viele Sachfragen - erheblich unterinformiert waren, um es einmal zurückhaltend zu formulieren.

Waren die Parlamente zu doof, um sich die richtigen Informationen zu holen, oder wurden sie vorsätzlich getäuscht?

Jedenfalls hat die Bahn ihre Kostenschätzung innerhalb kürzester Zeit nach oben korrigieren müssen. Zudem förderte das Schlichtungsverfahren erhebliche Defizite zu Tage. Wie kam das alles ans Licht der Öffentlichkeit? Weil eine aufgeklärte Bürgerschaft dies erzwang. Am Ende ist die ganze Republik der Gewinner dieses Konflikts. Denn so viel ist klar: in dieser Weise können Planungsverfahren künftig nicht mehr durchgezogen werden.

Wollen Sie sagen, dass die parlamentarische Demokratie bei Stuttgart 21 versagt hat?

In der Demokratie gilt der Grundsatz: Legitimation durch Verfahren. Aber diese Verfahren müssen offen und qualitätsvoll sein. Die Debatten, die wir bei der Schlichtung auf hohem Niveau bei Pro und Kontra hatten, habe ich im Landtag leider nie erlebt. Die parlamentarischen Verfahren sind zum Teil sehr oberflächlich geworden. Deshalb wollen wir nicht nur Elemente direkter Demokratie einführen, sondern mehr noch das Parlament stärken, damit es wieder ein Ort substanzieller Sachauseinandersetzungen wird. Die Dinge müssen klar auf dem Tisch kommen, und die Abgeordneten müssen ihre Kontrollfunktion offensiv wahrnehmen und nicht alles glauben, was ihnen andere vorsetzen.

Die Grundentscheidung des Grundgesetzes sowie der Landesverfassung fiel zu Gunsten der repräsentativen Demokratie. Das Grundgesetz sieht mit Ausnahme einer Länderneugliederung keine Plebiszite vor, die Landesverfassung setzt hohe Hürden. Plädieren Sie für eine Revision der Verfassung?

Nein, es geht darum, die Verfassung zu öffnen für mehr direkte Demokratie, wie wir das im Nachbarland Bayern sehen. Ziel ist eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie; das Parlament bleibt aber das Rückgrat. Wenn das Volk als Souverän möchte, kann es in bestimmten Fragen die Entscheidung an sich ziehen. Das halte ich in einer aufgeklärten Bürgergesellschaft nach 60 Jahren Demokratie einfach für angesagt.

Ist ein Volksentscheid in Ihren Augen höherwertiger als ein Parlamentsentscheid?

Das möchte ich nicht sagen. In einem Fall ist das Parlament der Gesetzgeber, das andere Mal ist es das Volk. Im Fall des Kündigungsgesetzes haben wir die Entscheidung bewusst an das Volk zurückgegeben, nachdem das Parlament einen Gesetzentwurf der Regierung abgelehnt hatte. Das heißt, dass es in besonderen Situationen gut ist, wenn das Volk selbst entscheidet. Es wird sicher nicht so sein, dass wegen jedem Lohkäs das Volk befragt wird.

"Die Gerichte haben stets das letzte Wort"

Im aktuellen Fall Stuttgart 21 könnte das Problem auftreten, dass der Volksentscheid selbst bei einem Erfolg der Projektgegner unwirksam bleibt, weil eine Kündigung der Finanzverträge an den Gerichten scheitert.

Die Gerichte haben stets das letzte Wort. Das gehört zur Gewaltenteilung, die nicht dadurch verändert wird, dass wir Abstimmungen vom Parlament auf das Volk verlagern.

Könnten Sie sich eine Volksabstimmung vorstellen, in der gefragt wird: "Soll Deutschland für die Schulden anderer Staaten der Europäischen Union einstehen?"

Das Volk sollte über alles abstimmen können, über das das Parlament auch abstimmen kann. Gegenwärtig verhält es sich so, dass das Volk über den Staatshaushalt nicht entscheiden darf.

Zielt die Volksabstimmung über Stuttgart 21 überhaupt vorrangig auf eine Lösung im Bahnhofsstreit - oder ging es von Anfang an nicht eher um eine Lösung Ihres Koalitionsstreits mit der SPD? Ohne den Ausweg Volksabstimmung wäre die Koalition gar nicht zustande gekommen.

Wir sehen das nicht so. Wir haben den gesellschaftlichen Konflikt um Stuttgart 21 in die Koalition hereingenommen und zeigen einen Weg, wie man mit so einem Großkonflikt umgeht. Das halte ich für stilbildend, nicht für kritikwürdig. Wir weisen einen Weg, den Streit zu befrieden. Andere haben das nicht getan.

Taugt der 27. November für die Einlösung Ihres Versprechens, eine Bürgerregierung führen zu wollen? Gisela Erler, Ihre Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, sagte, die Abstimmung liege "quer in der Landschaft".

Die Volksabstimmung über Stuttgart 21 ist ein wichtiger Baustein. Quer liegt sie deshalb in der Landschaft, weil sie etwas zurückholen will, nämlich eine über die Köpfe der Bürgerschaft getroffene Entscheidung. Das ist ungewöhnlich. In Zukunft wollen wir Volksabstimmungen machen, bevor die Dinge entschieden sind, nicht erst hinterher.

Zahlreiche und heftige Kritik finden die Formulierungen auf dem Stimmzettel. Befürworter von Stuttgart 21 müssen mit Nein stimmen, die Gegner votieren mit Ja. Erkennen Sie darin ein Problem, und weshalb haben Sie das nicht anders gemacht?

Das ist natürlich ein Problem, aber die Verfassung sieht vor, dass das Volk nur über Gesetzentwürfe abstimmen kann - in diesem Fall über das Kündigungsgesetz, wie es die Landesregierung ins Parlament eingebracht hatte und dort abgelehnt wurde. Das macht die Sache kompliziert. Doch wenn das Volk Gesetzgeber ist, muss es sich mit der Materie schon auch ein wenig beschäftigen. Aber so schwierig ist der Stimmzettel auch wieder nicht, dass man ihn nicht verstehen könnte.

Erschöpft sich Ihre Rede über mehr Bürgerbeteiligung in Volksentscheiden - oder kommt da noch mehr?

Ich würde gar nicht behaupten, dass Volksentscheide das wichtigste Mittel für mehr Bürgerbeteiligung sind. Wir wollen die repräsentative Demokratie weiter als Rückgrat unserer Demokratie. Deshalb ist es entscheidend, dass wir Formate schaffen, mit denen die Zivilgesellschaft mehr Einfluss auf Entscheidungen von Parlament und Regierung bekommt. Vereinfacht gesagt: den Einfluss, den starke Interessengruppen schon immer auf die Gesetzgebung hatten, den soll die Zivilgesellschaft auch haben.

Was ist denn am Ende das größere Problem für Sie: Stuttgart 21 bauen zu müssen oder mit leeren Händen dazustehen?

Wir werden nicht mit leeren Händen dastehen. Wenn Stuttgart 21 nicht gebaut wird, dann wird eine Alternative verwirklicht.