Exklusiv Wolfgang Schorlau, einer der wichtigsten Krimi-Autoren Deutschlands, arbeitet an seinem neuen Buch: Der Privatdetektiv Georg Dengler soll Licht ins Dunkel der NSU-Morde bringen – eine Recherche, die auch dem in Stuttgart lebenden Autor immer unheimlicher wird.

Stuttgart – - Seit Manfred Rommel, der als schreibender Oberbürgermeister die Bestsellerlisten stürmte, gibt es in Stuttgart keinen erfolgreicheren Autor als ihn: Wolfgang Schorlau. Mit seinen Dengler-Krimis nähert sich der 63-jährige Schriftsteller, einer der wichtigsten Vertreter des Politkrimis, der Gesamtauflage von einer Million. Sieben Dengler-Romane sind bisher erschienen, der achte mit dem noch vorläufigen Titel „Die schützende Hand“ ist gerade in Arbeit. „Noch nie habe ich mich vor einem Buch so gefürchtet“, sagt der für seine Recherchen bekannte, im Heusteigviertel lebende Thriller-Autor.
Herr Schorlau, in Stuttgart sind Sie zuletzt nicht als Autor, sondern als Moderator hervorgetreten: bei der „Geheimsache Verfassungsschutz“ im Literaturhaus.
Das hängt mit der Arbeit an meinem neuen Roman zusammen. Der Anfang wird vermutlich so sein: Georg Dengler erhält von den Opfern des NSU-Attentats in der Kölner Keupstraße den Auftrag, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Anders als die Polizei, die gegen die Bewohner der Keupstraße selbst ermittelt, stößt Dengler schnell auf ein Gemix von Staatsschutz und rechtsradikalen Kreisen. Deshalb bin auch ich tief in den NSU-Komplex eingetaucht, in die Mordserie der Neonazis aus Thüringen.
Wie sah Ihre Recherche aus?
Ich habe mir einige Tatorte angeschaut, mit ermittelnden Polizisten gesprochen, entsprechende Sachliteratur gelesen und die Untersuchungsberichte des Bundestags und des Thüringer Landtags durchgeforstet – ein Aktenstudium, das ungeheuer viel Material geliefert hat und jeden Leser dieser Dokumente vor die Frage stellt, ob der Verfassungsschutz der Demokratie nützlich oder schädlich ist. Darum die Veranstaltung im Literaturhaus.
Und? Ist er nützlich?
Ich kann nur die Arbeit des Thüringer Verfassungsschutzes beurteilen. Sie ist einigermaßen gründlich durchleuchtet worden. Und da kann ich sagen: es wäre besser gewesen, wenn es ihn nie gegeben hätte.
Warum?
Für mich steht außer Frage, dass der Thüringer Verfassungsschutz die rechtsradikale Szene erst aufgebaut, ihr Struktur gegeben und sie materiell bestens ausgestattet hat. Er hat sie auch vor Strafverfolgung geschützt: Die Neonazis mussten sich fühlen, als gelte für sie eine Generalamnestie – all das hat der Thüringer Untersuchungsausschuss weitgehend aufgedeckt, immerhin. Und dass jetzt endlich auch in Baden-Württemberg ein solches Gremium eingerichtet wird, halte ich für eine längst überfällige Entscheidung.
Hier gab es nur eine EnqueteKommission . . .
 . . . die mit völlig unzureichenden Kompetenzen zahnlos agierte. Sicher, das hiesige Landesamt für Verfassungsschutz kann man mit dem in Thüringen nicht vergleichen, es ist deutlich besser geführt. Trotzdem: In allen Bundesländern, in denen der NSU gemordet hat, sind längst Untersuchungsausschüsse eingerichtet worden. Nur in Baden-Württemberg hat man sich dagegen gesträubt, ausgerechnet hier, wo eine gründliche Aufarbeitung besonders wichtig ist: Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, 2007 in Heilbronn, ist ein Schlüsselmord im NSU-Komplex. Könnte man die Hintergründe dieses Verbrechens aufhellen, würden sich viele weitere Fragen klären lassen.
Haben Sie Belege für diese steile These?
Bei meinen Recherchen hat mir ein erfahrener Kriminalbeamter gesagt: Bei jeder Ermittlung kannst du auf einen Zufall stoßen. Bei zwei Zufällen musst du misstrauisch werden: könnte zwar sein, ist aber unwahrscheinlich. Doch drei Zufälle: kann nicht sein. Und jetzt der sogenannte NSU-Mord in Heilbronn. Da kommen so viele Zufälle zusammen, dass ich ausholen müsste . . .
Nur zu!
Zufall 1: Die beiden Mörder aus Thüringen, genauer: aus der Provinz um Saalfeld-Rudolstadt, fahren aus Hass auf den Staat ziellos durch Deutschland, um einen Polizistenmord zu begehen, wie die Bundesanwaltschaft in ihrer Münchner Klageschrift schreibt. Die Mörder machen zufällig Halt in Heilbronn und treffen auf der Theresienwiese zwei Polizisten in der Mittagspause, darunter das Mordopfer Michèle Kiesewetter, die aus der gleichen Ecke der gleichen Provinz stammt. Zufall 2: Der Vorgesetzte von Kiesewetter gehört dem rechtsradikalen Ku-Klux-Klan an, der über V-Leute verbunden ist mit dem NSU-Komplex. Zufall 3: Ein Mitglied des US-Geheimdienstes befindet sich zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts und wird wegen zu schnellen Fahrens geblitzt – ich vermute, dass es im NSU-Komplex auch Verbindungen zu anderen Geheimdiensten gibt. Zufall 4: Ebenfalls in der Nähe befindet sich ein Mitglied des Verfassungsschutzes von Baden-Württemberg. Zufall 5: Ein Zeuge aus der rechten Szene kommt, sechs Jahre später, am Morgen vor seiner Vernehmung unter mysteriösen Umständen ums Leben. Er verbrennt im Auto, das man auf dem Stuttgarter Wasen findet, angeblich Selbstmord. Von den verunreinigten Wattebäuschen, dieser in die Irre führenden, die Ermittlungen um zwei Jahre verzögernden Panne will ich jetzt gar nicht reden . . .
Alles, was Sie aufgelistet haben, ist belegt?
Alles. Es sind einfach ein paar Zufälle zu viel in Heilbronn zusammengekommen.
Wie werden Sie diese Zufälle im neuen „Dengler“ verarbeiten?
Ich weiß es noch nicht. Ich habe mich noch nie vor einem Buch, das ich gerade schreibe, gefürchtet. Aber vor diesem Buch habe ich Angst. Je mehr ich über den NSU erfahre, desto mehr stellt sich mir die Frage, in was für einem Land ich lebe: Ist das noch ein demokratischer Rechtsstaat, wenn Staatsschutzbehörden in großem Umfang jenseits des Rechts operieren, ohne wirkungsvolle Kontrolle? Ich leide an Erkenntnisfurcht.
Sind die Erkenntnisse so schlimm?
Es ist so: egal, wo man beim NSU-Komplex hingreift, eröffnet sich eine zweite Sicht, weit über Heilbronn hinaus. Es ist gespenstisch. Ein Beispiel: dass Uwe Böhnhard und Uwe Mundlos, die zusammen mit Beate Zschäpe das NSU-Trio bildeten, tatsächlich gemeinschaftlichen Selbstmord begangen haben, glaube ich nicht mehr. Das wird zwar offiziell behauptet . . .
 . . . aber Sie wissen’s jetzt besser?
Ich bin da nicht allein. Ein BKA-Experte kommt zu dem Schluss, dass die Funktionsweise der Waffen und die Anzahl der Patronenhülsen, die im Wohnmobil der beiden gefunden wurden, gegen die Selbstmordtheorie sprechen. In dem Camper, in dem sich die Burschen erschossen haben sollen und der danach abgebrannt ist, hat man zwei Patronenhülsen zu den Geschossen gefunden. Der Laie denkt: okay, für jeden eine. Stimmt aber nicht. Das Gewehr, das benutzt worden ist, wirft die Patrone erst aus, wenn es nach dem Schuss wieder durchgeladen wird. Das heißt: um auf zwei Patronen zu kommen, hätte einer der beiden Toten, dessen Kopf schon weggeputzt ist, nochmals laden müssen. Weil das nicht geht, muss eine dritte Person im Camper gewesen sein.
Verstanden!
Eine dritte Person ist von Nachbarn tatsächlich beim Verlassen des Campers gesehen worden. Die Staatsanwaltschaft aber erklärte, dass das nicht sein könne: Der Ausgang des Campers stünde an einem Abgrund, der so tief ist, dass man da nicht mehr rauskomme. Ich bin zum Tatort gefahren. Es gibt eine Grube, ja, aber da klettert selbst ein Achtzigjähriger noch rauf und runter. Wo immer ich zu recherchieren anfange, entsteht ein zweites Bild, das etwas anderes erzählt als das offizielle. Das ist das Unheimliche am NSU-Komplex.