Corona hat die Schwachstellen im Kunstbetrieb offengelegt. Die Künstlerin Ülkü Süngün und die Theaterintendantin Martina Grohmann wollen mit vielen Mitstreitern das System umkrempeln.
Stuttgart - Gewöhnlich schaut jeder nach seinen eigenen Schäfchen. Während der Coronakrise haben Kulturinstitutionen und die freie Szene ein Bündnis gegründet, das den Kulturbetrieb gerechter machen soll. Die Stuttgarter Künstlerin Ülkü Süngün und Martina Grohmann, die Intendantin des Stuttgarter Theaters Rampe, halten das für dringend notwendig.
Frau Süngün, Sie sind freischaffende Künstlerin und Aktivistin. Wie sind Sie durch das vergangene Jahr gekommen?
Süngün: Interessanterweise im Gegensatz zu den Jahren davor ganz gut. Ich habe im Januar 2020 an die Staatsgalerie Stuttgart mehrere Arbeiten verkauft, und das Stipendium „10 qm/Corona Katalyse“ des Kulturamtes Stuttgart hat mich ab September abgesichert. Ich hatte Glück, bin aber nicht repräsentativ . . .
Frau Grohmann, als Intendantin des Theaters Rampe ist Ihr Gehalt vermutlich weiter verlässlich auf dem Konto angekommen?
Grohmann: So ist es. Wir sind da durchaus privilegiert und konnten durch unsere institutionelle Förderung das Rampe-Team weiterbeschäftigen.
Sie fordern in einem neuen Bündnis mehr Gerechtigkeit. Ist der Kulturbetrieb denn tatsächlich so ungerecht?
Grohmann: Es gibt sehr ungleiche Verteilungen. Die Mehrheit im Kulturbereich ist unter prekären Verhältnissen beschäftigt. Auch wenn ich fest angestellt bin und gut durchkomme, ist unser Gehalt kein angemessenes im Blick auf die Aufgaben und die Verantwortung, die man für die Gesellschaft mitträgt.
Süngün: In der bildenden Kunst gibt es wenige, die ausschließlich von ihrer Kunst leben können, die meisten verbringen bis zu achtzig Prozent ihrer Zeit mit Nebenjobs. Ungerecht ist auch, dass ich als Künstlerin oft sehr gering und pauschal bezahlt werde. Wenn ich den tatsächlichen Arbeitsaufwand berücksichtige, erreiche ich oft nicht den Mindestlohn. In Besprechungen bin ich oft die einzige unbezahlte Teilnehmerin.
Das Bündnis fordert auch mehr Diversität im Kulturbetrieb. Allerdings sind Sie, Frau Süngün, die einzige Unterzeichnerin mit einem türkischen Namen.
Süngün: Ja, unter den Erstunterzeichnerinnen und- unterzeichnern könnten Sie mich als Quotenmigrantin bezeichnen! (lacht) Unser Statement ist ein Aufruf für mehr Diversität, das ist dringend notwendig und allen bewusst. Dies gilt aber nicht nur für die Kulturinstitutionen.
Trotzdem sitzen in den Museen und Theatern fast nur weiße Akademikerinnen und Akademiker an den Schaltstellen. Sollte man da nicht erst einmal seine eigenen Hausaufgaben machen?
Grohmann: Ich finde durchaus, dass sich die Institutionen diese Arbeit vorgenommen haben. Der Diskurs ist angekommen, die praktische Umsetzung ist ein längerfristiger Öffnungsprozess – bis sich eine diverse Gesellschaft entsprechend auch in den Institutionen abbildet. Da kann Erfahrungs-, Wissenstransfer und die kritische Diskussion im Bündnis helfen.
Die Museen haben die freien Kunstvermittler doch als Erste abserviert. Haben Sie Ihren Schauspielern durch die Krise geholfen?
Grohmann: Ja, wir haben kreativ für die Weiterarbeit gesorgt und die ursprünglich geplanten Aufführungshonorare umgelagert auf Produktionsprozesse. Damit durften wir die Künstlerinnen und Künstler weiterbezahlen.
Haben Sie, Frau Süngün, die Institutionen als solidarisch erlebt?
Süngün: Ich habe Institutionen erlebt, die schnell kreative Formate entwickelt haben, um die Freien weiter zu beschäftigen. Da wurde viel versucht – entsprechend der Handlungsmöglichkeiten. Andere haben es anders erlebt, und einige, die auf das Geld angewiesen waren, standen vor verschlossenen Türen und sind dann auch durch die Netze der Hilfsprogramme gefallen.
In Ihrem Brief haben einige angegeben, befristet tätig zu sein. Klingt das nicht zynisch für alle, die Corona hart getroffen hat? Zumal einige trotz Befristung seit Jahrzehnten recht kommod auf ihren Posten sitzen . . .
Süngün: Für mich wirkt das nicht zynisch, sondern transparent. Durch die Bündnisgespräche wurde mir auch klar, dass den Institutionen an vielen Stellen die Hände gebunden sind, weil sie sich kaputtgespart haben.
Grohmann: Die Institutionen in Baden-Württemberg haben ganz unterschiedliche Beschäftigungssysteme – bis hin zu Institutionen, die ehrenamtlich betrieben werden. Diese Diversität zu erkennen ist der erste Schritt zu einem solidarischen Miteinander. Deshalb war es wichtig, das kenntlich zu machen.
Geht es um Umverteilung oder mehr Geld?
Grohmann: Es geht um eine Absicherung des Bestehenden und perspektivisch natürlich um mehr Geld, weil die Sorge um die Zeit nach Corona besteht. Ein Beispiel: Die Rampe wurde mit vielen anderen Theatern auf Landesebene bereits umgestellt von einer Festbetragsförderung auf eine Fehlbetragsförderung. Wenn wir etwa ein Projekt coronabedingt auf 2022 verschieben wollen, können wir keine Rückstellung bilden, sondern bekommen das Geld abgezogen, praktisch ist das eine Kürzung und geht an einer nachhaltigen künstlerischen Planungsperspektive völlig vorbei.
Der Zeitpunkt scheint für den Ruf nach mehr Geld nicht der Beste zu sein.
Grohmann: Das ist die Frage: Macht man jetzt einen Rückzieher, weil es unrealistisch ist? Es ist genau der richtige Moment, über Organisation und Finanzierung von Kultur zu sprechen und sie zu reorganisieren.
Wollen Sie das bedingungslose Grundeinkommen für alle Kulturschaffenden?
Süngün: Wir diskutieren, was realistisch ist und was wir zum Arbeiten brauchen. Aber warum nicht radikal neu denken? Sind die Förderbedingungen gerecht? Wer sitzt in den Jurys? Wie kann ein gerechter Zugang zu Ressourcen aussehen?
Im Kunstmarkt geht es um Geld und Werte. Aber auch im Theater wollen Sie doch nur die Allerbesten. Da ist die Ungerechtigkeit im Kern angelegt.
Grohmann: Wir haben immer mit Auswahlmechanismen zu tun. Aber wir müssen sie uns bewusst machen und versuchen, sie zu unterwandern und weiterzuentwickeln. Deshalb ist ein Austausch wichtig, damit gegenseitige Abhängigkeiten sichtbar und damit gestaltbar werden.