Kinder, die negative Beziehungserfahrungen machen, haben ein höheres Risiko, als Jugendliche gewalttätig zu werden. Doch die Gruppen in Kitas seien oft zu groß für authentische Bindungen, sagt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster.

Stuttgart - Von einer „Generation Bushido“ ist bereits die Rede, die Lust auf Gewalt hat und im Internet mobbt. Spielen hierbei Gewaltvideos eine Rolle, die im Kinderzimmer konsumiert werden , oder Rapper, die Gewalt verherrlichen? Für den Kinderarzt Herbert Renz-Polster steht fest: Die Ursachen liegen in den ersten Lebensjahren begründet. Wer hier negative oder gar keine Beziehungserfahrungen macht, für den erhöht sich später im Leben das Risiko, gewalttätig zu werden.
Herr Renz-Polster, wo liegen die Ursachen für die Aggressivität der Jugend?
Weder sind da einfach nur die Gene noch einzelne Lebensereignisse schuld. Auch Begründungen wie Zufälle, dass das Kind einfach so an falsche Freunde geraten sei, stimmen nicht. Vielmehr hat spätere Gewalttätigkeit immer auch mit der früheren Beziehungsbiografie zu tun. Welche Grunderfahrungen machen Kinder in einem Beziehungssystem? Wie verlässlich und feinfühlig wird in der Säuglings- und Kleinkindzeit auf sie eingegangen? Die Qualität der Beziehungen entscheidet darüber, ob die Kinder Empathie und Selbstkontrolle entwickeln können. Beide Kompetenzen sind für mögliche Gewaltbereitschaft im Erwachsenenalter zentral.
Dann kommt es also auf die frühen Jahre an, die Kinder zunehmend in Krippen und Kitas verbringen. Was müsste dort getan werden, um das Risiko der Kinder, später eine Gewaltkarriere zu entwickeln, zu minimieren?
Kleine Kinder entwickeln ihre emotionalen und sozialen Kompetenzen nicht einfach so aus sich selbst heraus, sie brauchen die Resonanz ihrer Bezugspersonen. Der Fokus der Krippen- und Kita-Betreuung müsste deshalb auf der Beziehungsebene liegen. Hier müssten hochwertige, emotional sichernde, verlässliche, authentische und feinfühlige Beziehungen geboten werden. Ich sehe daher den heutigen funktionellen Fokus auf frühe Bildung kritisch. Verlässliche Bindung kommt für die Kleinen vor Bildung – auch wenn erstere eindeutig kosten- und personalintensiver ist.
Kindergärtnerinnen beklagen das hohe Aggressionspotenzial mancher Kleinkinder. Was müsste man tun?
Die Kinder zeigen in den Kitas vor allem ihr normales kleinkindliches Aggressionsverhalten. Es ist wichtig, dies zu erkennen: Wenn Kinder sich in diesem frühen Alter aggressiv verhalten, ist das normal. Leider wird das in Kitas aber bisweilen verwechselt, und die Kinder mit dem aggressiven Verhalten wie Beißen und Kratzen werden rasch sanktioniert. Oft sogar mit dem zeitweiligen Ausschluss vom Gruppengeschehen oder dem Entzug von Beziehungen. Das ist aber grundfalsch. Kinder wollen sich in die Gruppe einklinken, sind damit aber gerade am Anfang oft überfordert. Das Kind wird dann als ein „böses“ Kind behandelt, dabei sind 99 Prozent des kindlichen Aggressionsverhaltens „unsoziale Kontaktaufnahmen“, die vom Kind aus gedacht nicht „böse“ gemeint sind. Das Thema Aggression müsste deshalb viel stärker in der Erzieherinnen-Ausbildung verankert werden. Denn der Ausschluss von Beziehungen erreicht genau das Gegenteil, gerade aggressive Kinder brauchen ja einen sichernden Kontext.
Inwiefern sehen Sie den Staat in der Pflicht?
Er müsste die Kitas und Krippen ausrüsten und konzeptionelle Prioritäten auch in den Orientierungsplänen setzen. Wichtig wäre auch ein Personal-Mindestschlüssel. Zudem gibt es spezielle Programme wie Roots of Empathy, die in Kitas und Schulen Empathie fördernd wirken. Grundlegend aber finde ich eine Änderung unserer Denke wichtig: Der Fokus in den Kitas hat sich immer mehr auf die kognitiven Kompetenzen verschoben, das halte ich für grundfalsch. Man kann Kindern Selbstkontrolle, innere Stärke und soziale Kompetenz nicht nach einem didaktischen Modell beibringen. Dazu müssen Kinder mit anderen Kindern umgehen, und zwar in freier, spielerischer Gestaltung. Das ist keine Zeitverschwendung, sondern Kinderrecht.
Was empfehlen Sie Eltern und Familien, in denen auffällig aggressive Kinder leben?
Wichtig sind verlässliche, feinfühlige, authentische Beziehungen, die auch von anderen erwachsenen Freunden außerhalb der Familie getragen werden können. Funktionierende Beziehungen außerhalb der Familie wirken nach Auskunft der Resilienzforschung vorbeugend. Eltern müssen außerdem der Versuchung widerstehen, das Problem über den Aufbau eines „Machtgefälles“ lösen zu wollen, denn das ist keine nachhaltige Lösung. Authentische Kommunikation ja, aber nicht Grenzen um der Grenzen willen.