Michael Gerling, Chef des Kölner Handelsforschungsinstituts EHI, räumt dem Neueinsteiger theoretisch Chancen ein. Er sieht aber viele Hürden.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Thea Bracht (tab)

Stuttgart/Köln – - Michael Gerling (54) ist Geschäftsführer beim EHI Retail Institute in Köln, einem wissenschaftlichen Institut des Handels mit rund 800 Mitgliedern. -

 

Herr Gerling, in Leipzig hat die erste Filiale des russischen Discounters Torgservis eröffnet, Dutzende weitere sollen folgen. Sind Aldi, Lidl & Co selbst schuld daran, dass diese Nische für einen neuen Superbillig-Discounter entstanden ist?

Tatsächlich haben die Discounter eine Lücke geschaffen, nachdem sie ihre Strategie dramatisch verändert haben von rein kostenorientiert zu stärker qualitätsorientiert. Da entsteht theoretisch Platz für jemanden, der allein auf die Kosten schaut, ein kleineres Sortiment anbietet, die Einrichtung denkbar einfach gestaltet, wenig Personal einsetzt und nicht alle Zahlungsarten akzeptiert.

War es ein Fehler von Aldi und Lidl, ihre Filialen zu modernisieren und die Produktpalette zu erweitern?

Nein, das war die richtige Strategie. Die Qualitätsoffensive hat gut funktioniert, das kam beim Konsumenten an. Die Discounter konnten sich von den Supermärkten Marktanteile zurückerobern und haben neuen Schwung bekommen.

Ware auf Paletten und in Pappkartons, Lagerhallenatmosphäre – attraktives Einkaufen sieht anders aus als in der neuen Filiale namens Mere. Kann dieses Billigstkonzept, wie es früher Aldi praktizierte, heutzutage noch erfolgreich in Deutschland sein?

Das ist nicht gerade der Markttrend, aber es gibt hierzulande viele Menschen, die sehr aufs Budget achten müssen. Deshalb ist es auch sinnvoll, sich zunächst auf Ostdeutschland zu konzentrieren, wo die Einkommenssituation angespannter ist als im Süden und Westen.

Trauen Sie den Russen also auf dem schwierigen deutschen Markt einen erfolgreichen Einstieg zu?

Die Chance ist durchaus da. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neueinsteiger im Billigsegment Erfolg hat, relativ gering. In Deutschland kommt keiner an den Discountern vorbei. Wenn der neue Anbieter tatsächlich einige Basisprodukte zu deutlich günstigeren Preise anbietet, können Aldi und Lidl ziemlich lange mithalten, ihre Einkaufsvorteile sind dramatisch. Ein entscheidender Punkt ist auch die Artikelqualität: Bei den Themen Tierhaltung, Pestizideinsatz und Nachhaltigkeit sind die Deutschen sensibel. Wenn die Stiftung Warentest oder Nichtregierungsorganisationen hier einen Skandal aufdecken, ist das eine öffentliche Katastrophe. Woher die Russen ihre Waren beziehen, wissen wir nicht, das ist alles noch sehr dubios, wir haben auch noch keinen Kontakt aufnehmen können. Früher gab es in Russland keine vernünftige Ernährungsindustrie. Das mag sich geändert haben – aber dann handelt es sich um Einkaufsquellen, die auch die deutschen Discounter erschließen könnten.

Muss also Aldi kein Aldi-Light-Konzept gegen die neue Konkurrenz aus der Schublade ziehen?

Nein. Viel interessanter ist ein Geschäftskonzept von Aldi in den USA: Trader Joe’s, ein Discounter mit Bio-Image. Die Kette, eine Aldi-Tochter, könnte auch hierzulande erfolgreich sein, weil sie mit ihrem Sortiment – bio, vegetarisch, Gourmet zu günstigen Preisen – für bestimmte Kundengruppen, etwa junge Familien, attraktiv sein könnte.