Vor einem Jahr begann die Aufdeckung der „NSU“-Morde. Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung wirft Barbara John, Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer, den Sicherheitsbehörden Vertuschung vor.

Berlin – Ein Jahr nach Auffliegen der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund („NSU“) hat sich im Leben der Hinterbliebenen der zehn Mordopfer einiges zum Besseren gewendet. Dennoch sind die Familien schockiert, dass auf die versprochene schonungslose Aufklärung Vertuschung folgte, sagt die Opferbeauftragte Barbara John.
Frau John, Sie sind seit Januar Beauftragte für die „NSU“-Opferfamilien. Wo konnten Sie die Situation der Angehörigen verbessern, und wo ist es weniger geglückt?
Wir konnten schon viel erreichen, aber die Familien mussten in den vergangenen Jahren und müssen weiterhin seelische Schwerstarbeit leisten. Erinnern wir uns an ihr Schicksal: Erst wurden sie Opfer, dann wurden sie den potenziellen Tätern zugeordnet. Sie trauerten und wurden zugleich sozial ausgegrenzt. Das hat viele der Angehörigen aus der Bahn geworfen. Langsam ordnet sich ihr Leben wieder, und dabei konnte ich sie unterstützen.
Auf welche Weise? Auf sehr unterschiedliche, denn jede Familie hat andere Probleme. Bei den einen geht es um Staatsangehörigkeits- und Ausbildungsfragen, Aufenthaltssicherung, Passbeschaffung, Probleme mit der Wohnung oder um gesundheitliche Schwierigkeiten. Bei anderen helfe ich bei der Beantragung von Opferrenten, bei der Arbeitssuche, Schuldnerberatung, Militärdienstbefreiung, bei Deutschkursen.

Gibt es bei den öffentlichen Stellen, mit denen Sie zu tun haben, ein Bewusstsein für die besondere Lage der Familien?
Wenn die Familien selbst versuchen, ihre Probleme zu lösen, werden sie meistens wie „Normalfälle“ behandelt. Also hinten anstellen, keine Härtefalllösung, sondern die Standardvariante. Die Familien sind aber nicht wie alle anderen. Sie haben schon zehn Jahre gewartet, sie sind Härtefälle. Das muss ich jedes Mal erklären. Oft hat es geholfen, wenn ich mich direkt an die Amtsleitung gewandt habe. Das hat die Dinge meist enorm beschleunigt. Dennoch muss ich zur Klärung einer Angelegenheit etwa zehn bis dreißig Kontakte aktivieren und halten. Wo konnten Sie den Angehörigen nicht weiterhelfen? Es ist für die Opfer enttäuschend, dass die wichtige und mit Überzeugung gegebene Zusage der Bundeskanzlerin, dass alles in Bund und Ländern getan wird, um herauszufinden, warum der „NSU“ so lange unbehelligt blieb, nicht erfüllt wurde. Wir sehen inzwischen, dass die Sicherheitsbehörden ein Eigenleben führen und ihre Fehler auf keinen Fall selbst offenlegen wollen. Im Gegenteil, sie vertuschen sie. Das wird in den Untersuchungsausschüssen immer wieder deutlich. Für die Angehörigen ist das kaum zu verkraften. Sie können es nicht fassen, dass in einem Land wie Deutschland, das sie immer als funktionierenden Rechtsstaat wahrgenommen haben, so etwas möglich ist. Für viele ist das eine bittere Erkenntnis.

Ist auch Ihr persönliches Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert?
Ja. Ich stehe mit Entsetzen davor. Man hat es mit Beamten aus den Sicherheitsapparaten zu tun, die angesichts der Trümmer ihrer eigenen Verfehlungen nicht zur Selbstkritik fähig sind. Im Gegenteil, sie beharren weiter darauf, alles richtig gemacht zu haben. Dabei haben sie alles falsch gemacht! Erstmals ist klar geworden, dass die Sicherheitsbehörden mit dieser Einstellung nicht primär den Bürgern dienen, sondern vor allem ihrem Selbsterhalt. Der Eindruck drängt sich auf, dass der Verfassungsschutz vor allem sich selbst schützt, nicht die Verfassung oder die Bürger.
Was müsste geschehen? Die Bundesregierung müsste alles daransetzen, dass sich daran etwas ändert. Einige Chefs von Verfassungsschutzbehörden sind zwar zurückgetreten, aber das reicht nicht aus. Die mittlere Ebene, die die Operationen zu verantworten hat, ist weiter im Amt und tut ihre Arbeit so, wie sie es immer getan hat. Das stimmt nachdenklich und traurig.

Wo halten Sie Veränderungen für notwendig?
Es müssten andere Strukturen und eine grundsätzlich neue Arbeitshaltung entstehen. Die Sicherheitsbehörden müssen sich als Dienstleister im Auftrag der Bürger verstehen und nicht als wirkmächtige Institutionen, die sich selbst genügen. Wir brauchen ein grundsätzliches Nachdenken darüber, warum im Sicherheitssystem solche gravierenden Fehler möglich waren? Was ist das für eine Arbeitskultur in den Sicherheitsdiensten, die keine Selbstreflexion, kein Hinterfragen und kein Abweichen von der Mehrheitsmeinung zulässt? Es herrscht professionelle Blindheit. Die Kultur ist hierarchisch auf Gruppendisziplin ausgerichtet, nicht auf innovative Denkansätze.
Fühlen sich die Familien inzwischen dennoch zumindest teilweise von der Gesellschaft rehabilitiert? Oder überwiegt Groll? Wir haben es nicht mit grollenden Opferfamilien zu tun. Vor allem seit der Gedenkveranstaltung mit Bundeskanzlerin Angela Merkel haben die Hinterbliebenen wieder das Gefühl: Wir gehören dazu. Es gibt aber Trauer und auch Enttäuschung darüber, dass in diesem Land nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Viele hoffen jetzt, dass der Prozessbeginn gegen die Hauptbeschuldigte Antworten auf einen Teil ihrer Fragen bringt: Warum wurde unser Angehöriger getötet, warum wir, warum dieses Leid?

Sie meinen das Verfahren gegen die Tatverdächtige Beate Zschäpe, die derzeit als einzige Überlebende des rechtsextremen Zwickauer Terrortrios in Untersuchungshaft sitzt.
Ja. Wenn sie nur ein Fünkchen Gewissen und Mitgefühl besitzt, wird sie wissen, dass sie den Opferfamilien Antworten schuldig ist. Ich fürchte aber, dass es nicht so weit kommen wird. Wer zu solchen Taten fähig ist, dem fehlt vermutlich jegliche Fähigkeit zu Mitgefühl. Ich hoffe aber, ich irre mich.
Haben der anstehende Prozessauftakt und der Jahrestag der „NSU“-Morde eher eine Art kathartische, befreiende Wirkung auf die Familien oder eine traumatisierende?

Wohl eher Letzteres. Für die Hinterbliebenen sind es seelische Qualen. Es ist so, als würde man in einer Wunde herumstochern. Bei den Angehörigen kommen jene schmerzhaften Erinnerungen wieder hoch, mit denen sie bereits zu leben gelernt haben.

Was erwarten Sie sich von der weiteren Aufarbeitung der Morde?
Ich hoffe auf eine Antwort, was gesellschaftlich falsch gelaufen ist, dass eine solcher Rechtsterror entstehen und sein Unwesen über lange Zeit treiben konnte. Im Moment lädt die Gesellschaft viel Schuld bei den Sicherheitsbehörden ab. Die Morde sind aber nicht von den Sicherheitsdiensten verübt worden. Sie konnten sie zwar in der Anfangsphase der Verbrechen nicht aufklären, aber gemordet wurde, weil unsere Gesellschaft dem Rechtsextremismus zu viel Raum gegeben hat. Aus Gleichgültigkeit und politischer Schwäche.

Aufklärung
: Am 4. November 2011 wurden in einem ausgebrannten Wohnmobil im thüringischen Eisenach Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot aufgefunden. Ihre Komplizin Beate Tschäpe stellte sich wenig später der Polizei. Es folgt die Aufdeckung einer beispiellosen Serie an Verbrechen, Morden und Abscheulichkeiten – und die düstere Erkenntnis, dass die Sicherheitsbehörden versagt hatten.

 

Taten:
Der „NSU“ wird für die Ermordung von neun Geschäftsleuten türkischer und griechischer Abstammung verantwortlich gemacht. Zudem soll er zwei Bombenanschläge begangen haben.

Ombudsfrau
: Seit Anfang 2012 setzt sich Barbara John für die Hinterbliebenen der „NSU“-Opfer ein. Die 74-Jährige CDU-Politikerin war von 1981 bis 2003 Ausländerbeauftragte des Berliner Senats. Im Oktober 2007 wurde sie zur Vorsitzenden des Beirats der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gewählt.