Wie therapiert man pädophile Männer? Man muss ihnen beibringen, sich zu kontrollieren, sagt der Sexualmediziner Klaus Beier.

Berlin - Die sexuelle Neigung jedes Menschen manifestiert sich bereits im Jugendalter, meint der Sexualmediziner Klaus Beier. Er leitet das Forschungsprojekt „Kein Täter werden“, und wendet sich damit an pädophile Männer.

 

Herr Beier, seit sechs Jahren leiten Sie das Forschungsprojekt "Kein Täter werden". Was ist Ihr Ziel?

Wir wollen Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch schützen. 40 Prozent der Missbrauchsfälle werden von Tätern begangen, die eine pädophile Neigung haben. Wir wollen Pädophile erreichen, bevor sie einen Übergriff begehen. Die sexuelle Neigung jedes Menschen manifestiert sich im Jugendalter. Sie bleibt bis zum Lebensende bestehen und damit die Verantwortung eines Pädophilen, seine Neigung nie auszuleben. Wir wollen den Betroffenen helfen, ihre auf Kinder gerichteten sexuellen Bedürfnisse vollständig und dauerhaft zu kontrollieren.

Wie wollen Sie das erreichen?

Zuerst wird im Rahmen der sexualmedizinischen Diagnostik die sexuelle Präferenz präzise erfasst. Die betrifft den kindlichen Körper, auch Details wie Haarfarbe und Verhalten, etwa die Art sich zu bewegen. Dann werden Situationen analysiert, in denen der Pädophile sich von Kindern sexuell angesprochen gefühlt hat. Er soll lernen, sich in die Lage des Kindes zu versetzen, anstatt sich von seinen Bedürfnissen die Selbstkontrolle entziehen zu lassen.

Die dauerhafte sexuelle Neigung ist wichtig für Bindungen

Sie sprechen nur von Kontrolle, nicht aber davon, die sexuelle Neigung zu ändern. Ist das nicht möglich?

Nein. Eine dauerhafte sexuelle Präferenz ist im Übrigen für sozial organisierte Säugetiere sinnvoll. Denken Sie hier an den häufigsten Fall: der sexuellen Ausrichtung auf den erwachsenen Körper des Gegengeschlechts. Das ist wichtig, um Bindungen zu etablieren, die für die Familienbildung und Kindererziehung notwendig sind. Das wäre kaum zu gewährleisten, wenn sich täglich die sexuellen Vorlieben ändern würden. Und genau diese Unveränderbarkeit gilt für alle sexuellen Ausrichtungen.

Es gab also seit Projektbeginn keinen Fall, in dem ein Patient gelernt hat, seine Neigungen abzulegen?

Genau. Das wusste ich aber durch meine Forschung schon vorher. Ich habe viele Sexualstraftäter nachuntersucht - im Schnitt 25 Jahre nachdem sie einen sexuellen Übergriff auf ein Kind begangen hatten. Von den pädophilen Tätern berichtete keiner, dass sich seine Neigung geändert hätte, obwohl sich viele das wünschten.

"Sexuelle Neigungen werden nicht bewusst gewählt."

Wie bewerten Sie den Umgang der Öffentlichkeit mit Pädophilen, die keine Straftat begangen haben?

Ein Mensch darf nie wegen seiner sexuellen Neigung moralisch bewertet oder ausgegrenzt werden. Zur Sexualität gehören auch Homosexualität und seltenere Erscheinungen: masochistische genauso wie pädophile Neigungen. Diese hat man, sie wurden nicht bewusst gewählt. Es gilt vielmehr, den verantwortungslosen Umgang mit einer sexuellen Neigung zu verurteilen. Das ist der Fall, wenn man Bedürfnisse auslebt, die andere zu Opfern machen. Phädophilie ist mit einer Fremdgefährdung verbunden, wenn man sie ausleben würde - das gibt dem Pädophilen eine große Verantwortung. Er muss dafür sorgen, dass seine Wünsche nie zur Realität werden.

Welche Voraussetzungen muss ein Pädophiler erfüllen, um in Ihrem Projekt therapiert zu werden?

Er muss Verantwortungsbewusstsein zeigen. Das fällt ihm leichter, wenn die Öffentlichkeit akzeptiert, dass es Menschen mit pädophiler Neigung gibt. Um Pädophilen helfen zu können, ihre Verantwortung wahrzunehmen, werden Fachleute benötigt, die diese Neigung erkennen und behandeln können. Das ist derzeit nicht der Fall. Weder im Medizin- oder Psychologiestudium werden Kenntnisse darüber vermittelt, auch nicht in der Weiterbildung von Fachärzten und Psychologen. Es ist derzeit leider für die Betroffenen sehr schwierig, einen geeigneten Therapieplatz zu finden. 

Es gibt kaum pädophile Frauen

Wie viele Männer und Frauen haben phädophile Neigungen?

Pädophilie tritt fast nur bei Männern auf, bei Frauen kaum. Wir gehen aufgrund von Untersuchungen davon aus, dass etwa ein Prozent der männlichen Bevölkerung eine pädophile Neigung hat. Das wären dann etwa 250.000 Betroffene in Deutschland.

Pädophilie ist also kein Randphänomen. Verdrängt das die Öffentlichkeit?

Ja. Sie macht sich vor, dass sie das Problem gelöst hat, wenn wieder einmal jemand verurteilt wird. Doch wir haben es nicht mit Einzelfällen zu tun, und die meisten Übergriffe ereignen sich im Dunkelfeld. Die Pädophilie tritt im Übrigen ganz unabhängig vom Sozialstatus auf. Sie findet sich in allen Berufsgruppen. 

Sichere familiäre Bindungen sind die beste Prävention

Handeln sexuelle Straftäter nach einem bestimmten Muster?

Nein. Am häufigsten entstehen sexuelle Übergriffe aus einer zunächst freundschaftlichen Beziehung, oft zu Kindern aus zerrütteten Familien. Die sehnen sich nach Anerkennung. Kinder, die aus geschützten familiären Verhältnissen kommen, die sich geliebt fühlen, die Annahme und Akzeptanz erhalten, sind weniger gefährdet, in eine soziale Beziehung zu einem Mann mit pädophiler Neigung verstrickt zu werden. Sichere familiäre Bindungen sind die beste Prävention. Umso schlimmer sind die Fälle innerfamiliären Missbrauchs, in denen der Täter aus genau jenem Schutzraum kommt, auf den das Kind angewiesen ist.

Was können Eltern tun, um ihre Kinder zu schützen?

Eltern sollten die psychosexuelle Entwicklung des Kindes angemessen fördern. Dazu gehört auch, dass sie bereit und in der Lage sind, über Sexualität zu sprechen. Das klingt einfach, ist aber für die allermeisten unglaublich schwer. Und es wird durch das Internet komplizierter. Denn Kinder können bereits im vorpubertären Alter an Bilder gelangen, die sexuelle Handlungen zeigen, die auf sie verstörend wirken. Meines Erachtens sind die Eltern sich dieser Gefahr weder bewusst noch ihr gewachsen. Sie sollten sich dem aber stellen.

In Stuttgart haben Sie kürzlich an einer Tagung zum Thema "Sexuelle Gewalt an Schulen vermeiden" teilgenommen. Besteht an Schulen für Kinder ein erhöhtes Risiko?

Das Wort Gewalt ist irreführend. Sexueller Missbrauch ist häufig das Resultat eines zunächst freundschaftlichen Verhältnisses zu einem Erwachsenen. Der nutzt dann seine geistige und körperliche Überlegenheit aus, um bei einem schutzbedürftigen Kind seine eigenen Fantasien zu verwirklichen. Körperliche Gewalt wird nur selten eingesetzt, es geht um viel komplexere, um manipulative Mechanismen, die man verhindern muss. Diese können auch in der Schule, der Kirche oder im Verein auftreten, denn dort dürfte der Anteil der Männer mit pädophiler Neigung höher sein als sonst, da die Betroffenen sich besonders für Berufe interessieren, in denen sie mit Kindern in Kontakt kommen. 

Der Projektleiter und Interviewpartner

Forscher

Klaus Beier (Jg. 1961) leitet das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité in Berlin.

Projekt

Beier leitet das Forschungsprojekt „Kein Täter werden“, das unter dem Slogan „Lieben Sie Kinder mehr, als Ihnen lieb ist?“ öffentlich auftritt. Projekte in Schleswig-Holstein und Bayern stützen sich auf die Berliner Erfahrungen.