Der Sozialwissenschaftler Ortwin Renn spricht über die seiner Meinung nach wahren Gründe, warum vielen Menschen das Projekt Stuttgart 21 ablehnen.

Stuttgart - Tunnelsicherheit und Denkmalschutz - das sind für Ortwin Renn von der Universität Stuttgart nur vorgeschobene Argumente der Stuttgart-21-Gegner. Dahinter stünden tief sitzende Ängste, die man ernst nehmen müsse - am besten im Rahmen einer Bürgerbeteiligung.

Die Menschen fühlen sich von Stuttgart 21 überfahren, meint Ortwin Renn - was halten Sie von den Veränderungen in Stuttgart? Sagen Sie uns Ihre Meinung! »

Herr Renn, viele glauben, dass sie in den nächsten Jahren ihre alte Heimat verlieren werden - weil sich Stuttgart stark verändert. Können Sie diese Angst nachvollziehen?


Durchaus. Wir leben in einer Zeit, in der auch familiäre Bindungen schwächer werden: Der Sohn lebt in Los Angeles, die Tochter in Bremen. Da stellen sich viele immer drängender diese Frage: Wo komme ich eigentlich her? Wo gehöre ich hin? Die Geschichte wird interessant - vor allem die vor der eigenen Haustür. Gerade ältere Menschen suchen nach ihren Wurzeln.

In einer Großstadt spielt "Heimat" aber wohl eine geringere Rolle als auf dem Land.


Sie täuschen sich. Auch in einer Großstadt wie Stuttgart kann ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen. Nehmen Sie nur den Stuttgarter Westen. Viele seiner Bewohner sagen doch: "Hier fühlen wir uns wohl, die Gegend passt zu meinem Lebensgefühl." Deshalb engagieren sie sich in der Nachbarschaft: Sie kümmern sich um den Park um die Ecke, beseitigen Müll oder sammeln für ein neues Spielgerät.

Der Westen ist ein Stadtteil, der sich langsam verändert. Die Stuttgarter City steht dagegen vor einem Eingriff im ICE-Tempo.


Stuttgart 21 wird seit fast 20 Jahren geplant, und es wird noch einmal zehn Jahre lang gebaut. Da kann man nicht von einer Veränderung im Hochgeschwindigkeitstempo sprechen. Gehen Sie mal nach China, da erleben Sie Wandel im Zeitraffer.

Ein Großteil der Menschen fühlt sich dennoch überfahren.


Sie sprechen den Kern des Problems an. Die Menschen fühlen sich mit einem Raum emotional verbunden. Den Ort, an dem sie leben, möchten sie aber mitgestalten und nicht nur passiver Zuschauer der Veränderungen sein.