Sie forschen seit vielen Jahren über Protest- und Bürgerbewegungen. Wo sehen Sie Vorläufer des Protests gegen Stuttgart 21?
Es wurde mit Blick auf Stuttgart oft hervorgehoben, dass hier zum ersten Mal ein konservatives Bürgertum, teilweise sogar ein parteipolitisch konservatives, auf die Straße gegangen sei. Das ist so nicht richtig. Es gab in der Vergangenheit große Auseinandersetzungen – beispielsweise beim Atomkraftwerk Wyhl, in Wackersdorf, rund um Gorleben, beim Frankfurter Flughafen. In diesen Fällen war die Bevölkerung und die daraus erwachsene Protestbewegung eher konservativ, teilweise auch ländlich geprägt. Nur war hier selten vom bürgerlichen Widerstand die Rede.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Das liegt daran, wie man das Wort versteht: Wenn man die badischen Weinbauern am Kaiserstuhl oder die Bauern in Gorleben vor Augen hat, dann passt die Kategorie des Bürgerlichen nicht so recht. Dennoch: auch diesen Protest haben nicht die üblichen Verdächtigen getragen, also „Linke“ oder „Systemveränderer“. Es überwogen vielmehr bodenständige, lokal gut verankerte und politisch eher in der Mitte stehende oder konservative Leute.

Dennoch hat der Streit über Stuttgart 21 die ganze Republik bewegt.
Er war und ist auch einzigartig: Einzigartig ist die Tatsache, dass die ganze Stadt aufgewühlt, polarisiert und politisiert wurde. Dies in einem Maße, wie es in der Bundesrepublik noch nie der Fall war. Wir erleben jetzt gerade die 108. Montagsdemonstration. So lange hat noch kein anderer Massenprotest in Deutschland angehalten, auch wenn die Teilnehmerzahlen inzwischen zurückgegangen sind.

Bei der Schlichtung wurde viel über neue Formen der Bürgerbeteiligung diskutiert – inwiefern weist Stuttgart 21 in die Zukunft?
Von diesem Konflikt geht mit Sicherheit eine Signalwirkung aus. Zum einen in Richtung engagierter Bürger, die sich künftig beispielsweise gegen Stromleitungen oder Pumpspeicherkraftwerke wehren werden. Das wird selbstbewusster geschehen als bisher. Schon jetzt sieht man, dass bei anderen Konflikten Bezüge zu Stuttgart hergestellt werden, indem die Leute ihren Ortsnamen mit der Zahl 21 verbinden. Stuttgart steht Modell dafür, dass man sich sachkundig machen kann und gegen die jeweiligen Projektbefürworter auf Augenhöhe streiten kann. Stuttgart strahlt auf viele andere Konflikte über Großprojekte aus.

Zum anderen stehen aber auch die Macher von Großprojekten künftig vor neuen Herausforderungen.
Planer, Politiker und Verwaltungsrechtler spüren schon jetzt die Konsequenzen. Sie sind verunsichert – ich habe das selbst auf mehreren Veranstaltungen erlebt. Man muss die herkömmlichen Planungsverfahren überdenken und damit auch die Reihenfolge von bestimmten Schritten. Der wichtigste Punkt dabei ist: es darf nicht wie bisher alles intern geplant und dann erst öffentlich werden, um sehr spät ins Planfeststellungsverfahren zu gelangen. Künftig muss man zu einem viel früheren Zeitpunkt versuchen, bei den Bürgern eine Meinungsbildung zu erreichen. Die kann dann mehrheitlich für oder auch gegen das Projekt ausfallen. Wenn erkennbar wird, dass sich zu viel grundsätzliche Kritik und Opposition bildet und die Einwände schwerwiegen, dann . . .

. . . wird das Projekt letztendlich gestoppt. Wenn das zum Normalfall würde, wären wir tatsächlich in der Dagegen-Republik angekommen.
Das ist zu schlicht gedacht! Aus dem Fall Stuttgart 21 folgt für mich die Verpflichtung für Planer und Politiker, Großprojekte nicht mit fertigen Konzepten anzugehen und einäugig anzupreisen, sondern das Für und Wider auf der Basis von Ideenskizzen darzulegen. Ich betone: auch das „Wider“. Man muss zu einem frühen Zeitpunkt über grundsätzliche Alternativen diskutieren. Gäbe es nicht einen Plan B? Und was passiert, wenn das Projekt nicht realisiert wird? Wenn die wesentlichen politischen und planerischen Entscheidungen bereits gefallen sind, bevor eine öffentliche Meinungsbildung stattfindet, dann empört sich die Bürgerschaft zu Recht.

Das Interview führte Erik Raidt.