Der Journalist Christoph Lemmer hat im Fall Peggy recherchiert. Was dabei zu Tage kam, hat sein Bild von der Justiz verändert, wie er im StZ-Interview erzählt.
23.12.2011 - 12:17 Uhr
Stuttgart - Der Journalist Christoph Lemmer hat im Fall Peggy recherchiert. Was dabei zu Tage kam, hat sein Bild von der Justiz verändert, wie er im StZ-Interview erzählt.
Herr Lemmer, mit dem Fall Peggy erzählen Sie dem Untertitel Ihres Buches nach die Geschichte eines Skandals. Worin besteht er?
Der Skandal ist, dass Polizei und Justiz Spuren und Beweise nicht mit dem Ziel der Wahrheitsfindung verfolgt haben, sondern dass es nur darum ging, den Fall irgendwie abzuschließen und jemanden zu verurteilen. Dazu kamen politische Intentionen. Der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein hat selbst eine neue Soko eingesetzt, als die Ermittlungen stockten. Als ich ihn mit den Pannen und Manipulationen, die folgten, konfrontierte, antwortete er: „Wo Menschen sind, passieren Fehler.“
Was waren aus Ihrer Sicht die Fehler?
Ausgerechnet der geistig Behinderte Ulvi K., der vor neun Jahren für den Mord an Peggy verurteilt worden ist, war einer der Ersten, bei denen die bayerische Polizei die fragwürdige Reid-Methode angewandt hat. Das ist eine Technik, den Beschuldigten gezielt so zu befragen, dass er ein Geständnis ablegt. Außerdem hat der Chefermittler der zweiten Soko, Wolfgang Geier, eine entscheidende Rolle bei der Fokussierung auf Ulvi K. als Täter gespielt. So hat er dem Profiler vorab seine eigene Tathergangshypothese in die Hände gedrückt statt ihm alle Fakten unvoreingenommen zu überlassen. Interessant ist insgesamt vor allem, wie beharrlich der Soko-Leiter selbst deutliche und überzeugende Gegenbeweise ignorierte. Was in seine Theorie passte, fügte er in das Gerüst seiner Ermittlungen ein. Passte etwas nicht, wurde es aussortiert.
Sie glauben, dass Ulvi K. unschuldig ist?
Ich bin mir zumindest sehr sicher, dass er Peggy auf keinen Fall so umgebracht hat, wie es das Gericht laut Urteil als erwiesen ansah. So kann es nicht gewesen sein. Die Uhrzeiten stimmen überhaupt nicht überein. Aber zwei Jungs, deren Aussagen das unter anderem belegen, haben diese nach einer Befragung der Polizei zurückgezogen. Als ich die beiden sprach, haben sie unabhängig voneinander erklärt, dass ihnen fälschlich vorgehalten wurde, der jeweils andere habe seine Aussage korrigiert. Sie stünden als Lügner da, wenn sie daran festhielten.
Wie haben die Ermittlungsbehörden auf Ihre Recherchen reagiert?
Keine von ihnen hat unsere Fragen so beantwortet, wie wir sie gestellt haben. Vom Polizeipräsidium Oberfranken und den Staatsanwaltschaften Bayreuth und Hof hieß es sogar, man könne zu dem laufenden Verfahren nichts sagen. Dabei galt der Fall damals als abgeschlossen. Der Wiederaufnahmeantrag wurde ja erst kürzlich gestellt.
Sie schreiben, in Lichtenberg könne man zwei Sorten von Menschen nicht leiden: Polizisten und Journalisten. Was haben Sie vor Ort erlebt?
Die Stimmung ist verschlossen. Man fühlt sich dort zu Unrecht an den Pranger gestellt, weil man als Kinderschändergesellschaft dargestellt worden sei. Ich würde übrigens behaupten, dass keiner dort von der Schuld Ulvi K.s überzeugt ist – und das, obwohl sich der nicht sehr ansehnliche Mann als Exhibitionist an Kinder herangemacht hat. Das Gericht hat im Namen des Volkes ein Urteil gesprochen, an das das Volk nicht glaubt. Das sollte einem zu denken geben.
Mit der Grabungsaktion auf einem Hof in Lichtenberg rückt in diesen Tagen ein Mann ins Visier, der schon als Sexualstraftäter im Gefängnis saß und schräg gegenüber von Peggy gewohnt hat.
Das ist eine ganz bemerkenswerte Aktion und hinterlässt bei mir ein merkwürdiges Gefühl. Ich habe mit dem Mann bei meiner Recherche auch gesprochen. Ein relativ beliebter Einwohner, der gut im Ort integriert ist. Er war kurz nach dem Verschwinden des Mädchens von den Ermittlern befragt worden, hatte aber ein Alibi und taucht deshalb nur ganz kurz in den Akten auf. 2007 gab es nach seiner Verurteilung wegen des Missbrauchs von zwei Kindern eine Hausdurchsuchung bei ihm. Man entdeckte in seinem Keller ein T-Shirt in der Größe, wie es Peggy getragen haben könnte. Aber die Ermittler fanden keine weitere Verbindung. Wenn nun auf dem Grundstück die Leiche gefunden wird, wäre das vielleicht eine Möglichkeit, endlich doch herauszufinden, was mit dem Kind passiert ist. Auch wenn das nach so langer Zeit natürlich trotzdem schwer wird.