Wissen wir nicht mehr, was uns guttut?
Wir tun uns alle schwer damit, unseren Körper mit seinen Grenzen und seiner Zerbrechlichkeit anzunehmen. Gerade deshalb sind wir so darum bemüht, ihn zu kontrollieren. Doch der Körper holt uns immer wieder ein, wie alle wissen, die jemals ernsthaft krank gewesen sind. Wenn unser Körper krank ist, sind wir es auch. Und es hilft rein gar nichts, dies abzustreiten, denn der Körper zwingt sich uns auf.

Sie sprechen aus Erfahrung?
In der Tat. Denn ich war lange Jahre magersüchtig. Und soll ich Ihnen etwas sagen? Lange Zeit hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich jemals darüber sprechen könnte. Meine Krankheit war mein Geheimnis. Dann aber habe ich nach und nach das Bedürfnis verspürt, davon zu erzählen.

Und ein Buch zu schreiben. Warum?
Weil Anorexie nichts ist, wofür man sich schämen muss. Es ist keine Schande, sondern ein Symptom. Das Buch trägt den Titel „Légère comme un papillon“, in Deutsch „So leicht wie ein Schmetterling“. Genau so wollte ich sein: so perfekt und leicht wie ein Schmetterling. Beinahe wäre mir das auch gelungen, in puncto Kilos, versteht sich.

Wofür ist Magersucht ein Symptom?
Magersucht ist ein Symptom, das an die Oberfläche bringt, was dem Menschen tief in seinem Inneren Schmerzen bereitet: Angst, Verzicht, Gewalt, Aggression, Wut. Magersucht kann manchmal auch der Versuch sein, sich vor all dem zu schützen, was der Kontrolle entgleitet, selbst dann, wenn man Gefahr läuft, daran zu sterben.

Wie verstehen Sie Ihre Krankheit heute aus dem Blick zurück?
In meinem Fall war es eine äußerst schmerzhafte Art und Weise, Nein zu sagen: Nein, ich bin nicht perfekt; nein, ich bin nicht diejenige, für die du mich hältst; nein, ich will nicht mein ganzes Leben damit zubringen, den Erwartungen anderer zu entsprechen. Ich war immer ein sehr braves Kind, aber um welchen Preis? So brav, dass ich im Laufe der Jahre vergessen habe, wer ich tatsächlich bin.

Wie lange haben Sie gebraucht, um Ihre Magersucht vollständig überwinden zu können?
Sehr, sehr lange, fast zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre Psychoanalyse, in denen ich nur sehr langsam meinen roten Faden wiedergefunden habe, zwanzig Jahre, um endlich das aussprechen zu können, was mir all die Jahre zuvor nicht gelungen war.

Wie hat sich dadurch Ihre Haltung zur Philosophie geändert?
Enorm! Lange Zeit habe ich geglaubt, dass die Philosophie dazu dient, die Welt zu erklären, um sie damit aber letztlich nur besser kontrollieren zu können. Schließlich ist mir aber klar geworden, wie jämmerlich im Grunde abstrakte Theorien sein können.

Wie geht es Ihnen heute?
Sagen wir mal so: Ich habe gelernt, wenn auch auf schmerzhafte Art und Weise, mit meinen Unvollkommenheiten zu leben. Es hat seine Zeit gedauert, bis mir bewusst wurde, dass die wahrhaftige Leichtigkeit erst dann entsteht, wenn wir uns so akzeptieren, wie wir sind.