Der neue Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sieht hierzulande weniger Antisemitismus als in anderen europäischen Ländern.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)
Stuttgart – - Seit rund vier Monaten führt Josef Schuster den Zentralrat der Juden in Deutschland. Er ist besorgt, dass es zuletzt mehr antisemitische Vorfälle gab. Gleichzeitig sagt der Mediziner, stehe die Republik verhältnismäßig gut da. Kippa zu tragen sei meist kein Problem. Hoffnungen machten auch die Proteste gegen Pegida.
Herr Schuster, wie hat sich Ihr Leben geändert, seit Sie oberster Repräsentant der Juden sind?
Ich muss jetzt mehr Termine auch über den bayrischen Raum hinaus wahrnehmen. Damit ist mein Freiraum natürlich deutlich weniger geworden.
Gibt es auch Einschränkungen, weil Sie jetzt Personenschutz brauchen?
Nein, das tangiert den persönlichen Bereich nicht. Die Behörden bewerten mein Amt so, dass Personenschutz nötig ist. Das ist leider keineswegs nur Routine, sondern es gibt Hinweise auf ein echtes Bedrohungspotenzial, das nicht nur abstrakt ist.
Warum haben Sie das Amt trotzdem übernommen?
Noch vor einem Jahr hätte ich klar gesagt, dass ich nicht bereit bin, für dieses Amt zu kandidieren. Denn die Aufgabe lässt sich nur schwer mit meinem Job als Fast-Vollzeit-Mediziner unter einen Hut bringen. Schließlich habe ich mich nach dem Rückzug meines Vorgängers in die Pflicht nehmen lassen, weil ich zuvor als Vizepräsident schon mitgewirkt und eine Entwicklung mit eingeleitet hatte, die ich für die Zukunft sichern wollte.
Laut einer jüngsten Studie hat es im vergangenen Jahr mehr antisemitische Übergriffe gegeben. Wächst die Gefahr stetig?
Im letzten Jahr hat der Gaza-Krieg dazu beigetragen, die Zahl der antisemitischen Vorfälle und deren Qualität – bis hin zu körperlichen Übergriffen – zu steigern. Daraus würde ich aber noch nicht auf einen Trend schließen. Auch in den Jahren zuvor gab es ein Auf und Ab. 2009 waren es sogar mehr Taten als 2014. In jedem Fall ist die Entwicklung besorgniserregend, weil es nicht mehr nur den rechts- oder linksradikalen Antisemitismus gibt, sondern auch Judenfeindschaft von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Dazu kommen die Ressentiments aus der Mitte der Gesellschaft.
Welche Gründe gibt es außer dem Nahostkonflikt dafür?
Der zeitliche Abstand zur Schoah spielt dabei sicher eine Rolle. Offenbar traut man sich jetzt wieder Dinge auszusprechen, die lange Zeit tabu waren.
Was hilft dagegen?
Was dagegen hilft, kann man bei der Pegida-Bewegung beobachten. Da erkennen Tausende von Menschen, die sicher nicht alle Rassisten und Ausländerfeinde sind, nicht, hinter wem sie herlaufen. Auf der anderen Seite lassen sich aber auch spontan Tausende Menschen bewegen, auf die Straße zu gehen, um gegen diese Ablehnung von Fremden und gegen Rechtsradikalismus zu demonstrieren. Das ist für mich ein Hoffnungszeichen.
Aber bei Pegida geht es doch eigentlich um den Islam.
Sehr richtig: eigentlich. Aber der Islam steht hier nur stellvertretend für gesellschaftliche Minderheiten, für das Fremde. Dieselben Menschen, die sich hier gegen Islamisierung oder zu viele Flüchtlinge positionieren, werden dies bei nächster Gelegenheit auch gegen andere Minderheiten, also auch gegen Juden tun.
Demos haben aber eine begrenzte Wirkung, wenn es um das Bewusstsein der Menschen geht. Sehen Sie im Blick auf den gesellschaftlichen Antisemitismus keinen Fortschritt?
Ich sehe keinen echten Fortschritt. Es gab immer einen bestimmten Bodensatz von Menschen, die antisemitische Ressentiments haben. Rund jeder Fünfte wollte zum Beispiel laut einer Umfrage vor ein paar Jahren keinen jüdischen Nachbarn haben. Laut einer gerade veröffentlichten Studie der Uni Leipzig äußern sich zwar nur rund zehn Prozent derart ablehnend, doch die Expertise hat meines Erachtens fachliche Mängel. Sicher, niemand wird als Antisemit geboren. Aber die Kirchen haben eine lange Tradition von Judenfeindschaft, die erst seit einigen Jahrzehnten korrigiert ist. Die daraus resultierenden Vorurteile stecken weiter in den Köpfen. Zudem wird es immer eine Stimmung gegen Minoritäten geben.
Sie haben davor gewarnt, in einigen Vierteln Berlins Kippa zu tragen. Gilt die Warnung auch für Ihren Wohnort Würzburg?
Gewiss nicht. Hier ist das unproblematisch möglich. Ich habe dabei nur Viertel im Blick gehabt, wo es sehr viele radikalisierte Muslime gibt. Solche Risiko-Bezirke gibt es außer in der Bundeshauptstadt vielleicht noch in Frankfurt und in Duisburg. Es geht da nur um einzelne kleine Bereiche in ganz wenigen Städten.
Haben Sie da nicht eine Selbstverständlichkeit formuliert, nach dem Motto, ein VfB-Fan gehe besser auch nicht in seiner Kluft in den HSV-Fan-Block?
Genau damit kann man meine Aussage vergleichen, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene. Im Grunde habe ich eine Binsenweisheit formuliert und nur bekannte Fakten beschrieben. Dass diese Aussage damals ein solches Medienecho ausgelöst hat, hat mich völlig überrascht.
Angesichts der jüngsten Anschläge zum Beispiel auf einen koscheren Supermarkt in Paris – wie bedroht sind Juden in Europa?
Juden und jüdische Einrichtungen sind auf der ganzen Welt Zielscheibe des internationalen Terrors. Dass es bisher keine solchen Anschläge in Deutschland gab, mag an der guten Vorfeldaufklärung der Behörden liegen oder auch Glück sein. Ansonsten dürfen wir Europa nicht über einen Kamm scheren. Es gibt Länder, wo der Antisemitismus deutlich ausgeprägt ist und von der Regierung kaum gebremst wird, etwa Ungarn. Dort geht die Jobbik-Partei so weit, dass Juden das Lebensrecht in Ungarn abgesprochen wird. In anderen Ländern gibt es vergleichsweise wenig Antisemitismus, dazu gehört Deutschland, wo die Zahl der entsprechenden Taten gemessen an der Bevölkerungszahl gering ist und Juden relativ sicher sind. Dabei spielt eine große Rolle, dass die Politik bei diesem Thema sehr sensibel und einig ist.
Ist es da verantwortungsvoll, wenn Israels Premier europäische Juden zur Auswanderung aufruft?
Israel ist laut Grundgesetz die Heimstatt der Juden und für alle Juden auf der Welt sozusagen eine Lebensversicherung. Hätte es Israel in den 30er Jahren gegeben, wäre es nicht zum Holocaust gekommen. Wenn Netanjahu auf diese Tatsache hinweist gerade gegenüber den Ländern, wo die Gefährdung groß ist, dann ist das legitim. Wenn er solche Sätze aus Anlass von Anschlägen formuliert, dann muss man sagen, dass Israel viel gegen den Terror unternommen hat, aber vor solchen Anschlägen ist man auch in Israel nicht gefeit. Für einen Aufruf zur Auswanderung aus Deutschland gibt es momentan überhaupt keinen Anlass.