Der Ex-Stabhochspringer, Günther Lohre, über die deutsche Dopingvergangenheit, Maßnahmen gegen den Betrug und die öffentliche Wahrnehmung.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Es ist nicht das Lieblingsthema von Funktionären: Doping. Einige wiegeln ab, andere sind genervt, und die meisten finden, dass dem Aspekt zu viel Raum eingeräumt wird. Günther Lohre sieht das anders. Der ehemalige Weltklasse-Stabhochspringer und heutige DLV-Vizepräsident spricht so offen wie nur wenige über das Thema, sobald das Wort fällt.

 

Herr Lohre, wir würden gerne über die Leichtathletik und auch über Doping reden.

Klar, ist ja ein Riesenthema, vor dem wir uns nicht verstecken dürfen. Es ist aktueller denn je. Letztens habe ich die Schwimm-WM angeschaut, und bei all den Vorgängen dort hat mich das ein wenig an die Leichtathletik vor 30 Jahren erinnert. Ich habe bisweilen das Gefühl, dass die Verantwortlichen in einigen Sportarten froh sind, dass sie nichts entdecken und so sagen können, bei ihnen ist alles in Ordnung.

Wer nicht kontrolliert, hat keine positiven Fälle und damit kein Dopingproblem?

So kann man das sagen. In einigen Sportarten befindet sich der Antidopingkampf auf einem beschämenden Niveau. Man findet, was man finden will. Oder man will erst gar nichts finden. Schauen Sie sich mal den Fußball an. Wenn der "Kaiser" sagt, Doping bringt nichts, dann ist es halt so. Basta!

Wobei es wohl nur wenige gibt, die glauben, dass im Fußball nicht auch gedopt wird.

Aber eine ernsthafte Debatte gibt es nicht. Vielen Höchstleistungen im Schwimmen, im Nordischen Skisport oder in der Leichtathletik, wird dagegen kaum noch Glauben geschenkt. Es ist eine Art Doppelsport entstanden, was man im Radsport eindrucksvoll sieht. Wir freuen uns nur halb über ein Ergebnis, weil die nächste Frage ist: Ist der wohl sauber? Diese Frage stiehlt den Menschen die spontane Freude. Allein schon deshalb ist man gut beraten, Betrug mit allen Mitteln zu bekämpfen, sonst verliert er seine Existenzberechtigung.

Was also tun?

Den Verdacht gibt es allerorten, das Problem ist, dass man Beweise vorlegen muss. Und das ist schwer, solange sich die Fahndung in Dopingkontrollen bei den Athleten erschöpft. Wir brauchen deshalb endlich den Straftatbestand Sportbetrug.

Viele Sportverbände meinen, dass man die Probleme selbst am besten lösen könne.

Kann er das wirklich? Wer glaubwürdig gegen die Hydra Doping kämpfen will wie der Deutsche Olympische Sportbund, sollte jede Hilfe annehmen, die er bekommen kann. Der zentrale Punkt sind die Möglichkeiten mit einem Gesetz, diese Straftaten aufzudecken. Bisher ist es doch so: die Athleten werden gesperrt, die Drahtzieher bleiben weiter im Geschäft. Man braucht deshalb ein Gesetz, um endlich die Hintermänner drakonisch bestrafen zu können.

Sie propagieren sauberen Sport. Was macht Sie so sicher, dass es im DLV sauber zugeht?

Ich habe eben den Eindruck, dass wir da gut dastehen. Ich kann mich auch täuschen. Wenn wir morgen drei Dopingfälle haben, habe ich ein Problem. Aber dann ist das nicht mehr mein Sport. Ich kann nicht für jeden die Hand ins Feuer legen, aber wie gesagt: Ich denke, dass wir gut aufgestellt sind. Deshalb müssen wir die Frage beantworten, wie wir Medaillen ohne Doping holen. Wir sind davon überzeugt, dass wir noch viel Potenzial haben, indem wir intelligenter trainieren, neue Trainingsformen entwickeln und alle Bereiche von der Leistungsentwicklung, der Gesundheitsbetreuung bis hin zur Regeneration auf Wettbewerbsvorteile hin optimieren. In einigen Bereichen gelingt uns das bereits, insgesamt ist das natürlich ein langer Weg.

"Bei Kopfschmerztabletten haben da manche schon ein schlechtes Gewissen"

Einerseits der Druck, andererseits die reine Lehre - ist das ein schwerer Spagat?

Ja, das ist er. Ein Beispiel: wir wurden für die hohen Normen kritisiert. Man muss dazu wissen, dass die Vorgaben vom Weltverband kommen und der DLV die Normen an das Kriterium "Endkampfchance", das im gesamten deutschen Sport gilt, anpasst. Wir können davon ausgehen, dass unter den Top Ten in den Disziplinen manipulierte Leistungen sind. Dadurch wird der Schnitt nach oben gedrückt und über die Norm der saubere Athlet bestraft, weil er möglicherweise an ihr scheitert. Aber wir stehen dazu, weil wir sicher sind, dass unsere Athleten es schaffen können. Das erfordert allerdings eine präzise Trainings- und Saisonplanung und vom DLV andere Entscheidungen.

Zum Beispiel?

Eine Konsequenz ist, dass wir nicht zu jedem Zeitpunkt Meisterschaften veranstalten können, wo das Fernsehen gerade Zeit hat. Sie müssen in die Periodisierung passen. Ich kann einen Sprinter nicht jeden Samstag laufen lassen und Topleistungen erwarten. Saubere Spitzenleistungen sind in der Leichtathletik ein seltenes Ereignis.

Sie sprachen davon, dass ein Athlet in der Saison auch Trainingsphasen benötigt, wobei Topsprinter regelmäßig schnell laufen.

Das trifft nicht für alle zu. Über die "Vielstarter" kann ich nur sagen: Schaut sie an, wenn sie ins Ziel laufen. Wenn ein 400-Meter-Mann über Wochen zwischen 44 und 45 Sekunden läuft und im Ziel ohne Atemnot weiter joggt, weiß ich doch, was los ist.

Wie motiviert man einen Athleten in einem eventuell ungleichen Duell?

Wir sprechen mit unseren Athleten viel darüber. Sie stehen hinter uns. Gerade die Jungen sind sehr idealistisch. Bei Kopfschmerztabletten haben da manche schon ein schlechtes Gewissen.

Aber wenn sie regelmäßig unterliegen?

Man kann ohne Manipulation vorne sein. Das ist anstrengend, es erfordert von den Athleten Mut, Selbstdisziplin und Beharrlichkeit - aber es ist der einzige Weg. Ich habe vor einiger Zeit mit einem unserer Wurftrainer gesprochen und ihn gefragt, wie er die Entwicklung sieht. Er meinte, solange wir qualitativ auf diesem hohen Niveau trainieren, habe er keine Angst. Andere versuchen es über den einfachen Weg der Manipulation. Schwer wird es, so sagte er, wenn andere so gut trainieren wie wir und manipulieren. Was uns in die Karten spielt, ist, dass die IAAF endlich mit umfassenden Blutkontrollen Ernst macht.

Macht man es sich nicht zu einfach? Gerade der deutsche Sport hat mit die größten Dopingskandale ausgelöst - und der DLV ist just dort erfolgreich, wo mit Doping vergleichsweise leicht Erfolg zu erzielen ist.

Unsere Erfolge im Wurf haben nichts mit Doping zu tun. Sie sind das Ergebnis guter Konzepte, guter Trainer und einer herausragenden biomechanischen Betreuung. Im Laufbereich ist das anders. Es gibt leider nur vereinzelt Gruppen, in denen nach den aktuellen Erkenntnissen der Trainingslehre trainiert wird. Wir sind dabei, dieses Wissen den Trainern anzubieten.

Trotzdem: gerade Deutschland hat eine gewaltige Dopingtradition.

Man muss das Dopingproblem in der Leichathletik auch aus der Zeit sehen. Ich habe erstmals den Begriff Anabolika in einer Mannschaftsbesprechung bei einem Länderkampf 1970 gehört. Der damalige DLV-Präsident Kirsch sagte: "Ihr wisst ja, ab nächstem Jahr gibt es Anabolikakontrollen. Ihr müsst euch darauf einrichten. Die Einzelheiten erzählt euch gleich der Joseph Keul" - damals Mannschaftsarzt. Der hat dann erklärt, dass man Anabolika zwei Wochen vor dem Wettkampf absetzen müsse, damit nichts passiert. Wenn man noch Fragen habe, möge man sich an ihn wenden. So war das damals. In dieser Zeit hat das um sich gegriffen.

Es gab kein Unrechtsbewusstsein, man hielt es für ein Kavaliersdelikt. Später hatte man das Gefühl, es wird politisch gefördert. Die Ansicht war ja, dass man unseren Athleten nicht vorenthalten darf, was der Osten seinen Sportlern gibt. So wurde von ganz oben allen Beteiligten auf den unteren Ebenen das Gewissen erleichtert. Im Westen wie im Osten das gleiche Prinzip. Es gab zu meiner Zeit innere Zirkel. Wer nichts nahm, gehörte nicht dazu. Wer nicht dopte, dem wurde vorgeworfen, er sei in seinem Sport nicht konsequent. Heute sollte jedem klar sein, dass Doping den Sport zerstört.

"Anstrengung, Selbstdisziplin, Willenskraft und Beharrlichkeit"

Haben Medaillen an Bedeutung verloren?

Nein. Darum geht es ja im Sport. Aber die Frage, die man sich als Athlet stellen muss, ist: Gebe ich alles, oder gebe ich das Beste? Wenn ich alles gebe, muss ich als Athlet bereit sein, meine Gesundheit zu opfern. Das dürfen wir nicht zulassen.

Eine idealistische Sicht.

Nein, es ist die richtige Sicht aus unserer Perspektive. Global durchsetzen wird sich das sicher nicht. Zum einen ist die Motivationslage in jedem Land anders. Zum anderen ist es eine Illusion zu glauben, dass man ein weltweit funktionierendes, gleichermaßen abschreckendes Antidopingsystem installieren kann. Wir müssen deshalb noch stärker klar machen, dass wir Betrüger nicht tolerieren. Warum belastete Athleten nicht ausladen oder von bestimmten Managern keine Sportler mehr verpflichten? Man könnte auch sagen: zwei Dopingfälle in einer Disziplin, dann darf ein Land dort nicht an der WM teilnehmen. Das bittere ist ja, dass die meisten in Dopingfälle verwickelten Trainer immer noch im Geschäft sind. Das ist eine Sauerei.

Sind das die wahren Übeltäter?

Die Sportler werden schon zu Recht an den Pranger gestellt. Aber sind sie allein verantwortlich? Nein, denn das würde bedeuten, dass sie gänzlich selbstbestimmt handelten. Es geht um Strukturen, nicht nur um bekannte Namen. Über die Hintermänner wird viel zu wenig berichtet. Prominente Dopingfälle sind natürlich interessanter als ein Trainer XY, den kein Mensch kennt.

Fehlt aber nicht auch innerhalb der Leichtathletik das Bewusstsein dafür?

Im vergangenen Jahr war ein US-amerikanischer Sprinttrainer beim DLV für einen Vortrag eingeladen. Dieser Trainer war in den Balco-Skandal verwickelt, er hatte bereits sechs Dopingfälle in seiner Gruppe. Egal, was für ein Fachmann das ist - ist das das richtige Zeichen? Nein, deshalb haben wir diesen Trainer wieder ausgeladen. Wir wollten damit das Zeichen setzen, dass wir solche Leute nicht wollen. Ihre gedopten Athleten nehmen sauberen Athleten unter Umständen die Finalplätze weg.

Jenseits dieser Debatte: Sie sind seit Ende 2009 im DLV - wie fällt Ihr Fazit aus?

Es gibt sehr gute Leute im DLV. Das Problem sind die Entscheidungsstrukturen. Aus Sicht des Leistungsports ist Zentralismus sehr wirkungsvoll, diesen Weg können wir aber nicht gehen. Wir müssen die beteiligten Athleten und Trainer immer überzeugen, wenn wir weiterkommen möchten. Der DLV ist eine Monopolorganisation. Es fehlt der Zwang des Marktes, sich ständig weiterzuentwickeln. In Monopolorganisationen gibt es immer die Tendenz, sich auf die Schulter zu klopfen. Ich würde deshalb dem Hauptamt auf allen Ebenen der Organisationen mehr Entscheidungsbefugnis geben und das Ehrenamt in einer Funktion als Art Aufsichtsrat installieren.

Die olympische Kernsportart verliert an Boden. Was kann man dagegen tun?

Die Leichtathletik ist und bleibt in ihrem Kern mit Anstrengung, Selbstdisziplin, Willenskraft und Beharrlichkeit verbunden. Diese Werte sind zurzeit nicht besonders populär. Es ist die Individualsportart mit dem höchsten Leistungsdruck. Die Leichtathletik ist und bleibt interessant, wenn es bei Meisterschaften um etwas geht. Boden verlieren wir in der TV-Präsenz, aber das geht anderen populären Sportarten genauso. Die Fußballunterhaltung dominiert, weil sie auf die kommerziellen Ziele der Medien eingeht.

Schauen Sie neidisch nach Frankreich zu einem Star wie Christoph Lemaitre?

Den gibt es in Deutschland auch. Wir müssen ihn nur finden. Es gibt keinen Grund, warum ein Deutscher nicht unter zehn Sekunden laufen können soll. Lemaitre ist ein perfektes Beispiel für innovatives Training und dafür, dass man auch als Weißer schnell sein kann. Und das ohne Doping, da bin ich mir ziemlich sicher.