Chefredaktion : Holger Gayer (hog)
Und was ist mit den neueren Quartieren, etwa dem Europaviertel?
Michael Kienzle Das sind Löcher im Bild der Stadt, vor allem im Blick auf die Aufenthaltsqualität. Dass dort keine neuen Erinnerungsmerkmale entstanden sind, gleichzeitig aber viele abgerissen werden, halte ich für schwer erträglich. Ich stimme daher dem Architekten Roland Ostertag zu, der dieses ja in einem Beitrag für Ihre Zeitung ebenfalls bemängelt hat. Selbst eingefleischte Stuttgarter haben genau deswegen Schwierigkeiten, sich mit der Stadt zu identifizieren.
Veronika Kienzle Es gibt im Europaviertel keine gewachsene Struktur, sondern eine aufgepfropfte. Dort ist viel Geld unterwegs, aber kein Gemeinwesen entstanden.
Ist das nicht logisch, wenn ein Viertel erst seit wenigen Jahren besteht?
Veronika Kienzle Ja, aber es wird auch nicht besser werden, weil die Struktur nur auf Geld und Einkaufen angelegt ist. Menschlich gesehen ist es dort unwirtlich und kalt.
Sie vergessen die Stadtbücherei, wo die Kultur zu Hause ist, und die Pariser Höfe, wo Menschen aus Fleisch und Blut leben.
Veronika Kienzle Die Bücherei ist in der Tat ungeheuer wichtig an dem Standort, weil es sonst überhaupt keine kulturelle Identität dort geben würde.
Michael Kienzle Das stimmt, aber – wer weiß? – die Menschen holen sich oft auch die hässlichsten Gebiete zurück. Nehmen wir die Theo: Wer hätte je gedacht, dass dort mal Leute im Freien sitzen wollen? Dieses Phänomen entschuldigt aber nicht eine schlechte Stadtplanung. Entscheidend ist die Größe eines Quartiers. Wo kleinteilig gebaut wird, entsteht Leben. So wie im Bohnenviertel oder hier am Hans-im-Glück-Brunnen. Dort ist Stuttgart auch im besten Sinne des Wortes provinziell.
Sie wollen im Ernst, dass Stuttgart provinziell ist?
Veronika Kienzle Der Titel Provinzstadt kann auch ein Markenzeichen sein. Ich hoffe zum Beispiel, dass in der Leonhardsvorstadt (auf dem Züblin-Areal) ein Quartier entsteht, das auf Anhieb das Urbane mit dem Kleinteiligen kombiniert. Dort werden überschaubare Parzellen definiert und dann nach Bewerbung vergeben. Im französischen Viertel in Tübingen hat das super funktioniert. Das ist das Gegenteil von der Vorgehensweise eines Großinvestors, der ein Einkaufszentrum baut – und danach diskutiert man darüber, ob nun noch 20 Wohnungen dort reinkommen. Nehmen Sie das Gerber: Bei den Leerständen, die dort in den oberen Stockwerken zu verzeichnen sind, hätte man locker auch 60 Wohnungen machen können. Die hätten wir dringend gebraucht.