Chefredaktion : Holger Gayer (hog)
Ich fasse also zusammen: Ehepaar Kienzle hätte gerne um 22 Uhr die Bürgersteige hoch geklappt.
Veronika Kienzle Exakt das nicht. Aber Sie beschreiben damit genau das Trauma, das viele Stuttgarter immer noch haben. Stuttgart gilt oft noch als kleinlich und spießig, obwohl gerade das gastronomische Angebot in den vergangenen 20 Jahren regelrecht explodiert ist. Der Handel und das Wohnen sind dagegen zurückgedrängt worden. Nehmen Sie das Quartier rund um den Hans-im-Glück-Brunnen. Früher haben hier 150 Personen gewohnt, inzwischen sind es noch 40. Dass wir an manchen Stellen kurz vor einer Monokultur stehen, ist nicht gut.
Michael Kienzle Andererseits muss ich nach meinen Bemerkungen zu den Besuchern aus der Region auch sagen, dass es natürlich keine Bedrohung ist, dass viele Auswärtige nach Stuttgart kommen, sondern eine Bereicherung. Wichtig ist letztlich die Vielfalt: Es dürfen eben nicht nur die Alten mit ihren Rollatoren oder die Jungen mit ihrem Testosteron kommen, sondern es muss eine Mischung sein.
Veronika Kienzle Dieser Grundsatz gilt auch für den Bevölkerungsmix. Das ist die entscheidende Frage der Stadtplanung. Es reicht eben nicht, einen ersten hübschen Aufschlag zu machen, sondern man braucht eine dauerhafte Voraussetzung für Gemeinwesen. Deswegen ist es wichtig, unbequem zu bleiben und im Zweifel auch zu sagen: Nein, das ist uns zu viel, wir wollen weniger von dem einen oder dem anderen.
Wie beurteilen Sie in dem Zusammenhang den Marienplatz?
Veronika Kienzle Der ist ein ganz neues Phänomen . . .
Michael Kienzle . . . und einer der besten und lebendigsten Plätze der Stadt, . . .
. . . über den viele Ur-Stuttgarter zunächst gesagt haben: Was für eine hässliche Pflastersteinwüste!
Veronika Kienzle Und jetzt haben die Bürger den Platz für sich selbst angenommen. Es ist eine großartige Entwicklung, wie dieser Platz sich verändert hat. Dort ist kein reines Gastronomenkonzept entstanden, sondern wirklich ein Bürgerplatz.
Michael Kienzle Ähnlich verhält es sich mit dem Flohmarkt. Der ist eine samstägliche Institution, bei dem man viele Bekannte trifft. Ein richtiger Wärmepunkt.
Veronika Kienzle Wie überhaupt alle Wochenmärkte. Da kommen die Bauern aus Kornwestheim und die Stuttgarter aus der Halbhöhenlage zusammen und begegnen sich unverkrampft. Deswegen halte ich auf dem Flohmarkt auch meine Bürgersprechstunde ab.
Michael Kienzle Man hört dort übrigens das schönste Schwäbisch.
Ja, vom Bauer aus Kornwestheim.
Michael Kienzle Nein, auch in der ganzen Stadtmitte wie in den Stadtbezirken gibt’s den Dialekt glücklicherweise noch, . . .
Veronika Kienzle  . . . wobei man schon zugeben muss, dass es, wie schon beschrieben, eine Innenstadtflucht gab. Gerade im Hospitalviertel ist das zu sehen: Dort wohnten früher 3000 Menschen, vor Kurzem waren es noch 700. Die neuesten Zahlen sagen aber, dass der Trend gestoppt ist. Es war die Kraft des Forums Hospitalviertel rund um Pfarrer Schwarz, die es geschafft hat, eine neue Quartiersidentität aufzubauen. Jetzt haben wir mit aktuell etwa 1030 Einwohnern wieder Zuwachs.
Michael Kienzle Tatsächlich wollen wieder mehr Leute bewusst in der Stadt leben . . .
Veronika Kienzle . . . und unsere Aufgabe ist es, sie dazu zu ermuntern, sich in Stuttgart eine neue Heimat bei toleranten und freundlichen Nachbarn zu schaffen.