Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Und die elterliche Erziehungsfreiheit?
Das ist die eigentliche Frage. Bei der Beschneidung kollidiert das Recht der Eltern, ihre Kinder religiös zu erziehen, mit deren Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit. Aber das Grundrecht auf elterliche Erziehungsfreiheit ist kein autonomes Freiheitsrecht der Eltern, es ist ein treuhänderisches Mandat: ein Recht im vorrangigen Interesse der Kinder. Daher endet es zwingend am Kindeswohl.

Geht es nicht auch um eine Kernfrage von Toleranz: Wo darf der Staat sich einmischen und wo sollte er sich heraushalten?
Der Staat muss sich einmischen, wenn gravierende Verletzungen von Wehrlosen drohen. Er mischt sich im Familienrecht ja auch so weit ein, dass er Eltern verbietet, ihre Kinder zu schlagen. Ohrfeigen sind heute verboten, aber ein irreversibler körperlicher Eingriff wie die Beschneidung sollte fraglos erlaubt sein? Selbstverständlich wollen wir keinen Erziehungsstaat, sondern einen Staat, der Wehrlose schützt.

Wie gravierend ist der Eingriff denn?
Nach meiner Kenntnis werden die allermeisten jüdischen Beschneidungen ohne jede Anästhesie vorgenommen. Das ist nicht nur schmerzhaft für die Neugeborenen, es ist eine Folterqual. Vor 30 Jahren glaubte man noch, Neugeborene fühlten gar nichts. Das ist längst überholt. Der Schmerz muss, darin sind sich alle Experten einig, furchtbar sein.

Dann müssten Millionen von Männern traumatisiert sein.
Es gibt eine Art unbewusstes Schmerzgedächtnis des Körpers. Das ist sehr wohl ein Trauma. Darüber hinaus gibt es medizinische Risiken, sogar Todesfälle. Gemessen an der Zahl der Beschneidungen ist das relative Risiko schwerer Folgen sehr gering. Trotzdem liegt es nicht in einem Bereich, den Strafrechtler für erlaubt halten könnten – weil es keine zwingende medizinische Indikation für diesen Eingriff gibt.

Wie soll sich der Gesetzgeber verhalten?
Der Staat befindet sich in einer Art rechtspolitischen Notstands. Rein juristisch zu argumentieren, wäre tatsächlich zu wenig. Wir haben den Juden gegenüber eine weltweit besondere Verpflichtung, deren furchtbaren Grund jeder kennt. Daran darf nicht gerüttelt werden. Hier stellt sich tatsächlich ein Problem der Abwägung. Und eigentlich sind die beiden Dinge, die abzuwägen sind, nicht vergleichbar: moralische Pflicht der Politik und Schutzgebot des Rechts. Leider hat der Bundestag offenbar geglaubt, das Ergebnis dieser Abwägung schon zu kennen, bevor er deren Problem verstanden hat.