Deutschland debattiert zurzeit generell über den Umgang mit Flüchtlingen, weil deren Zahl in den letzten Monaten deutlich angewachsen ist – und viele Kommunen überfordert wirken oder es sogar sind. Ist ein Krisengipfel vor der Wahl sinnvoll?
Ja. Wir werden in diesem Jahr 80 000 bis 100 000 Asylanträge haben. Das sind viel weniger als in den neunziger Jahren. Richtig ist aber, dass die Verteilung von Asylbewerbern und Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien – soweit letztere Gruppe nicht hier eine Arbeit aufnehmen oder studieren will – auf Städte und Stadtviertel ausgeglichener erfolgen muss. Man wird den Kommunen behilflich sein müssen – auch mit mehr Geld.
Peer Steinbrück im StZ- Interview. Foto: Michael Steinert
Das Motto des SPD-Wahlkampfes lautet: „Das Wir entscheidet.“ Gibt es im Umgang mit den Flüchtlingen zu viel Ich und zu wenig Wir-Gefühl?
Nein, aber es gibt Spannungen, wenn ein nachbarschaftlicher Raum überlastet wird. Das muss man politisch ernst nehmen. Es hat keinen Sinn, den Menschen dann gleich Fremdenfeindlichkeit zu unterstellen. Wenn dort Fahrräder vom Hof verschwinden oder Scheiben eingeworfen werden oder die halbe Nacht Ruhestörungen erfolgen, dann haben die Bürger einfach einen dicken Hals.
Der SPD-Wahlkampf kommt nur schleppend in Gang. Sie liegen weit hinter Merkel. Wie motivieren Sie sich, jeden Tag auf die Bühne zu klettern und die Trommel zu schlagen?
Der Wahlkampf ist keineswegs schleppend, wie Sie auf allen Veranstaltungen – wie jetzt in Esslingen – erleben konnten. Ich habe ein Ziel und eine Vorstellung für dieses Land, das wirtschaftlich stark sein soll, weil es gerecht zugeht. Und die SPD macht Wahlkampf, bis die Wahllokale am 22. September um 18 Uhr geschlossen werden.
Selbst zwei Drittel der SPD-Wähler glauben nicht, dass es noch zu einer entscheidenden Veränderung kommt.
Ach, diese Umfragen! Haben die Demoskopen nicht 2002 und 2005 ziemlich daneben gelegen? Haben wir uns nicht 2005 gesagt, wir glauben nie wieder dran? 30 bis 40 Prozent der Wähler entscheiden sich in den letzten zwei bis drei Wochen. Die Wahl steht und fällt für uns mit der Mobilisierung. Ich tue alles für die Mobilisierung.
Vielen Bürgern scheint der Wahlausgang ziemlich egal zu sein.
Meine Wahrnehmung ist anders. Ich höre zwar auch manchmal: Das interessiert mich nicht, und es geht uns doch gut. Dann frage ich immer, welches über die Legislaturperiode hinaus weisende Projekt die Regierung Merkel durchgesetzt hat. Rente? Pflege? Die Steuerpolitik? Oder etwa das Desaster, das sich Energiewende nennt? Dann fällt den meisten nichts ein.
Den Leuten fällt aber durchaus auf, dass Deutschland ganz gut durch die Euro-Krise gekommen ist. Außerdem sprudeln die Steuereinnahmen.
Die gleichen Leute sagen aber auch: Wir haben sieben Millionen Menschen, die weniger als 8,50 Euro verdienen. Meine Kommune fährt finanziell gerade an die Wand. Das Bildungssystem ist undurchlässig. Die Frauen verdienen in diesem Land teilweise 22 Prozent weniger als Männer. Viele fragen nach einer Antwort auf den drohenden Pflegenotstand.
Gleichwohl hatten wir im Jahr 2012 mit 600 Milliarden Euro mehr Staatseinnahmen als je zuvor. In diesem Jahr werden 615 Milliarden Euro erwartet. Und jetzt kommen Sie und wollen noch mehr Geld vom Bürger?
Ja, und das ist richtig! Die gute Finanzlage ändert sich sofort, wenn die Zinsen steigen. Oder wenn Deutschland wegen Bürgschaften und Garantien bei der Euro-Rettung stärker einsteigen muss. Oder wenn die Konjunktur in unseren Nachbarländern weiter in den Acker geht. Außerdem: Wir wollen ja nicht alle Steuern für alle erhöhen, sondern einige Steuern für einige, die die Gewinner in der Einkommens- und Vermögensverteilung der letzten zehn bis 15 Jahre sind.
Laut Steuerzahlerbund haben die Deutschen vom 1. Januar bis zum 8. Juli ausschließlich für Steuern und Sozialabgaben gearbeitet. Das sind 220 Tage – von 365.
Das ist ein Durchschnittswert; wobei ich bei allen Berechnungen dieses Verbandes zunächst mal skeptisch bin. Wenn man sich die Steuerquote und die Steuersätze anschaut, liegen wir im EU-Mittelfeld. Der Steuerzahlerbund sagt nicht dazu, dass wir in den letzten 15 Jahren eine Umverteilung von unten nach oben hatten. Deshalb ist es verantwortbar, die großen Einkommen und Vermögen stärker zu belasten.