Auch der Ausstieg aus der Atomenergie habe seine Tücken, sagt Ortwin Renn, Stuttgarter Professor für Soziologie, im StZ-Interview.

Stuttgart - Am Montag trifft sich die neue Ethikkommission der Bundeskanzlerin in der Nähe von Berlin, um sich mit den Chancen und Risiken der geplanten Energiewende zu befassen. Mit von der Partie ist der Risikoforscher Ortwin Renn von der Universität Stuttgart, der den Kurswechsel der Bundesregierung in Interviews zunächst als übertrieben bezeichnet.

 

Herr Renn, ist es irrational, wenn die Bevölkerung die Gefahren der Atomkraft überbewertet? Bei aller Dramatik ist in Japan schließlich noch niemand an den Folgen der Strahlung gestorben.

Ich verwende das Wort "irrational" in diesem Zusammenhang nicht gern, da es klingt, als seien die Menschen, die sich Sorgen machen, unvernünftig. Aber es ist schon so, dass die Darstellung der Ereignisse in Japan zwischen Verharmlosung - "es ist ja noch niemand gestorben" - und Übertreibung - "die größte Umweltkatastrophe Japans" - hin- und herpendelt. Dafür mag es unbewusste Gründe geben.

Können Sie die Ängste der Menschen nachvollziehen?

Ja, denn es ist bekannt, dass Unsicherheit und Bedrohung mehr Angst auslösen können als tatsächliche Katastrophen. Diese Neigung hat sich in der Evolution entwickelt, denn es ist in der Natur sinnvoll, sich frühzeitig in Sicherheit zu bringen. Die Neigung ist auch nicht typisch deutsch, sondern universal. Gerade weil wir dazu neigen, nicht fassbare Bedrohungen höher zu bewerten als reale Gefahren, ist es wichtig, sich dessen bewusst zu werden und entsprechend gegenzusteuern.

Heißt das, die Atomkraft müsste als weniger riskant eingestuft werden?

Es gibt Untersuchungen, bei denen die Atomkraft als weniger riskant dasteht als manch fossiler Energieträger. Kohlekraftwerke beeinträchtigen ja auch die Gesundheit, weil sie die Luft verschmutzen, und beim Abbau von Kohle sind die Arbeiter gefährdet - denken Sie an die vielen Grubenunglücke in China. Ich persönlich stufe die Kohle noch etwas schlechter ein, da sie das Klima belastet. Auch die Wasserkraft kommt in solchen Vergleichen nicht sehr gut weg: Man schätzt, dass jährlich etwa 8000 Menschen durch Dammbrüche sterben. Klar ist aber, dass die regenerativen Energien gut abschneiden - zumindest wenn man die Risikoanalyse auf die Dimensionen Gesundheit und Umwelt beschränkt und beispielsweise die Frage der Versorgungssicherheit außen vor lässt. Das Ergebnis fällt auch anders aus, wenn man zusätzlich die Stromkosten in die Analyse einbezieht.

Lassen sich gesundheitliche und ökonomische Risiken miteinander vergleichen?

Das wird versucht, auch wenn die Studien methodische Schwächen haben. Man kann die verschiedenen Risiken monetarisieren: Man fragt beispielsweise eine repräsentative Gruppe von Menschen, wie viel sie bereit wäre zu zahlen, um den Feinstaub in der Luft zu reduzieren. Dann erhält man für dieses Gut einen Preis. Natürlich kann man ein Menschenleben nicht mit Geld aufwiegen, aber man bekommt einen Anhaltspunkt für den Wert eines Guts und die Kosten eines entsprechenden Schadens.

Kann man politische Entscheidungen auf solchen Vergleichen aufbauen?

Man sollte diese Studien kennen, aber sie dürfen nicht die einzige Entscheidungsgrundlage sein. Menschen neigen dazu, bestimmte Risiken auszublenden und andere zu überschätzen. Der Wert der Studien liegt darin, dass sie helfen können, solche Verzerrungen aufzudecken. Letztlich sind die Entscheidungen aber Wertaussagen, bei denen es kein Richtig und Falsch gibt.

Wie sollte man Ihrer Ansicht nach zu einer Entscheidung kommen?

Ich untersuche Verfahren der Bürgerbeteiligung. Darin präsentieren wir Bürgern die Einschätzungen von Experten und bitten sie um ihr Urteil. Es geht um Fragen wie: Würden Sie einen höheren Strompreis akzeptieren, wenn damit das Risiko eines nuklearen Unfalls reduziert würde? Wenn man den Befragten die Konsequenzen der Optionen klarmacht, kann man auch eine ehrliche Antwort erwarten.

Die Sicherheitslage der deutschen AKWs

Die Expertenaussagen und die möglichen Konsequenzen sind aber hypothetisch.

Diese Unsicherheiten muss man deutlich kommunizieren. Man wird als Risikoforscher oft gefragt, ob eine Technologie sicher sei oder nicht. Dabei sind solche Fragen nicht zu beantworten. Man kann zum Beispiel sein Auto für sicher halten, aber man weiß auch, dass ein Unfall nicht völlig ausgeschlossen ist. Auch mit Blick auf Fukushima wird nun gefragt, warum niemand mit einer solchen Katastrophe gerechnet habe. Menschen neigen dazu, die Unsicherheiten zu bagatellisieren, und setzen auf eine Sicherheit, die es nicht gibt. Denn jede Technik hat ihre Risiken; ein Nullrisiko ist und bleibt eine Illusion.

Dann begrüßen Sie also die aufgeflammte Debatte über das Restrisiko der Atomkraft?

Der Begriff Restrisiko verschleiert eher die Risiken. Wir müssen festlegen, welches Risiko wir bereit sind zu akzeptieren. Die Reaktoren in Fukushima waren auf ein Erdbeben der Stärke 8,3 und einen Tsunami von acht bis zehn Meter Höhe ausgelegt. Die Naturkatastrophe übertraf diese Werte, und die Technik hat definitionsgemäß versagt. Wir können nun infolge dieses Ereignisses die Sicherheitsanforderungen hochschrauben, aber wir müssen uns im Klaren sein, dass es immer noch ein schlimmeres Szenario geben wird als das, für das wir die Technik ausgelegt haben.

Können Sie verstehen, dass eine Mehrheit nun die Sicherheitsanforderungen für Atomkraftwerke verschärfen will?

Objektiv hat sich an der Sicherheitslage der deutschen Kernkraftwerke nichts geändert. Es gibt auch wenig, was wir aus dem Unfallablauf in Japan für die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke lernen könnten: Dort sind schlicht die Auslegungskriterien von der Natur überschritten worden. Würde bei uns ein großes Flugzeug auf eines der älteren Kernkraftwerke stürzen, würde ebenfalls Radioaktivität in großem Umfang freigesetzt werden. Aber dennoch ist der Aktionismus der Bundesregierung nachvollziehbar - schließlich werden von der Politik schnelle Antworten erwartet.

Hat Sie dieser Kurswechsel überrascht? Bis vor kurzem war das Land in der Frage der Atomenergie tief gespalten.

Die Befürworter der Kernenergie sind derzeit still, aber ihre Stimmen werden bald wieder hörbar sein. Die Bundesregierung versucht daher die Gunst der Stunde für einen Konsens über viele gesellschaftliche Gruppen hinweg zu nutzen. Dazu soll auch die Ethikkommission beitragen. Schon in der ersten Sitzung wurde deutlich, dass die Bundesregierung auf einen raschen Ausstieg dringt und auf eine breite Unterstützung durch die Ethikkommission hofft.

Werden Sie der Bundesregierung bei ihrem Kurswechsel helfen?

Mir ist wichtig, dass wir in der Diskussion die Prämissen herausarbeiten und klar benennen. Die Bundesregierung geht zum Beispiel davon aus, dass der Energiebedarf bis zum Jahr 2050 auf die Hälfte reduziert werden kann. Das setzt aber voraus, dass die Mehrheit ihr Verhalten ändert. Außerdem gibt es Prognosen, dass die Fotovoltaik schon in zehn Jahren wirtschaftlich konkurrenzfähig sein werde. Es kann aber auch anders kommen.

Schon vor zehn Jahren wurde ein Atomkonsens geschlossen. Sind Sie sicher, dass der neue Konsens länger hält als der alte?

Der neue Konsens sollte auch künftige Regierungen binden. Daran arbeiten die Juristen schon.

Was kostet die Energiewende?

Schätzungen: Im Herbst 2006 hat der ehemalige Weltbank-Chefökonom Nicholas Stern in einem Bericht zum Klimawandel die Kosten einer Energiewende mit rund einem Prozent des globalen Bruttosozialprodukts beziffert. Die Spanne der Prognosen liege zwischen einem Minus von 3,5 Prozent und einem Plus von einem Prozent. Auch der Weltklimarat kam 2007 zu diesem Ergebnis.

Ziele: Die UN haben sich darauf verständigt, den Temperaturanstieg auf zwei Grad zu begrenzen. In den Szenarien von Nicholas Stern wird dieses ehrgeizige Ziel jedoch nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 15 Prozent erreicht. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung kam vor einem Jahr zum Ergebnis, dass auch ein Szenario mit einer 75-prozentigen Chance nicht mehr Kosten verursache als 2,5 Prozent des Bruttosozialprodukts.

Voraussetzungen: Die Szenarien hängen stark von den jeweiligen Annahmen ab. So wird meist vorausgesetzt, dass sich Kohlendioxid aus den Emissionen eines Kraftwerks abtrennen und im Erdboden lagern lässt. Diese Technik ist jedoch umstritten.

Lasten: Die Szenarien sind global angelegt. Um die regionale Verteilung der Kosten zu ermitteln, werden verschiedene internationale Regelungen durchgerechnet. Eine globale CO2-Steuer oder Emissionsrechte nach Wirtschaftsleistung würde die aufstrebenden Schwellenländer unverhältnismäßig belasten.