Talent als antirassistisches Instrument?
In diesen Teilen der Volkskultur zählt nur Talent. Es ist nicht der Name, die Herkunft, die Familie, die Uni, auf der sie waren – entscheidend ist nur, was für ein Talent sie an den Tag legen. Und das wird beim Fußball in absoluter Transparenz, vor aller Augen entschieden. Hitler ist bei Olympia 1936 aufgestanden und hinausgegangen, weil ein Schwarzer gesiegt und den Mythos des Ariertums zerstört hat! Insofern ist die Welt wirklich besser geworden. Talent zählt natürlich auch woanders, und im Fußball kann das schnell zum Erfolg führen, da wird man in ein paar Monaten ein Star. Während es mehr braucht, als nur einen Kurs in Creative Writing, um ein Thomas Mann zu werden.
Der Fußball als der Lehrmeister des Volkes?
Ja, doch, diese Eindeutigkeit und Klarheit und diese Unanfechtbarkeit der Regeln macht den Fußball wirklich zu einer wunderbaren Erziehungsinstanz. Man kann das Ergebnis nicht bestreiten, man kann meistens nicht dagegen klagen und in die nächste Instanz gehen – verloren ist verloren. Und auch die zeitliche Dimension: Zweimal 45 Minuten, dann ist Schluss, dann muss der Verlierer den Verlust schlucken, er muss seine Frustration verarbeiten. Fußball ist eine Folge von wichtigen Lehrprozessen, insofern spiegelt er die wichtigsten Elemente des wirklichen Lebens wider.
Die Strenge der Regeln und das Zufällige am Fußball – ist das nicht ein Widerspruch?
Nein, nicht wenn Sie das Element des Individualismus und des Wettbewerbs mitbedenken. Die Demokratie hat doch die soziale Vorhersehbarkeit abgeschafft. Zu Zeiten der Aristokratie wurden sie als Plebejer geboren, und sie starben als Plebejer. Heute können sie als Plebejer Steve Jobs werden. Oder Neymar. Oder Pelé, dessen Vater Analphabet war. So etwas artikuliert der Fußball viel besser als die Fabriken, die Unternehmen oder der Markt, wo es Monopole gibt. Monopole sind undenkbar im Fußball, einfach weil jede Mannschaft verliert. Es gibt ja diese Verschwörungstheorien, dass Nike irgendwelche Mannschaften kauft. Völliger Unfug, wären sie gekauft, würden alle magischen, märchenhaften, mystischen Elemente des Fußballs zerstört.
Die Fans heißen in Brasilien ja „torcedores“; das kommt von „sich winden“, „sich krümmen“. Das deutet auf eine spezielle Beziehung zwischen Team und Anhänger hin.
Das bezeichnet ein körperliches Verhältnis. Die ganze Spannung und Anspannung steckt in diesem Wort. Wenn das Spiel beginnt, liefert sich der Torcedor seiner Mannschaft mit Leib und Seele aus, nicht nur mit der Seele, wie der Fan. Sagen Sie mal einem Flamenguista (einem Anhänger von Flamengo Rio de Janeiro, Anm. d. Red.), hör mal, das ist doch nur ein Spiel – in Brasilien ist es immer mehr als ein Spiel, Fußball hat magische Qualitäten. Heute vielleicht nicht mehr so sehr, denn heute exportiert Brasilien Soja, wir bauen Flugzeuge, es gibt jede Menge Autos und so weiter. Aber früher haben wir den Fußball gebraucht, um der Welt zu zeigen, dass wir die Besten sind. Wenigstens beim Fußball. Das ist heute sicher ein bisschen passé, aber damals – wir hatten uns vor der Welt bewährt, wir hatten 1950 das größte Stadion der Welt gebaut.