Exklusiv Der Gesellschaftswissenschaftler Roberto DaMatta spricht im Interview über die Bedeutung der Fußball-WM in seiner Heimat – und über die Gegner der Mammutveranstaltung. Für die Vorbehalte gegen die WM bei den Brasilianern macht der die Regierung verantwortlich.

Rio de Janeiro – - Roberto DaMatta hat sein Hobby zum Beruf gemacht und die Entwicklungsgeschichte des brasilianischen Fußballs aus anthropologischer Sicht erkundet. Unmittelbar vor der WM-Start sagt der 77-Jährige: „Wenn angepfiffen ist, gewinnt das Spiel seine Realität, die sich ablöst von den Sponsoren, den Geschäftemachern, den Funktionären. Dieser Gedanke ist jedenfalls meine Art, den Fußball von seinen Verunreinigungen zu säubern.“
Herr DaMatta, als das Maracanã-Stadion 1963 renoviert wurde, nahm sich Moacir Barbosa, der Unglückstorwart von 1950, die alten Torpfosten, heizte damit seinen Grill an und stellte sich vor, das gebratene Fleisch sei das Bein des Uruguayers Alcides Ghiggia, der das Tor geschossen hat, wegen dem Brasilien nicht Weltmeister wurde. Sie sind Anthropologe – wie erklären Sie diesen Akt symbolischer Menschenfresserei?
Ich hatte in den achtziger Jahren ein Radioprogramm über Fußball, da hat mir Barbosa das selber erzählt. Er hat noch ordentlich Whisky dazu getrunken – seine Art, mit diesem fatalen Tor, dem Versagen, der Schuld umzugehen. Es war eine nationale Tragödie. Vielleicht die größte nationale Tragödie Brasiliens überhaupt. Übrigens hieß das Tor, in dem Barbosa damals stand, noch bis vor zehn, zwanzig Jahren „Ghiggia-Tor“, so nannten es die Radioreporter. Mit dem Fernsehen ist dieser Ausdruck natürlich in Vergessenheit geraten.
Warum war 1950 so eine Tragödie?
Fußball war das erste Element der Alltagskultur, das aus den Ländern importiert war, die man damals „zivilisiert“ nannte – also aus Europa, unser großes Vorbild damals. Brasilien übernahm und perfektionierte, sodass wir es zur Meisterschaft im Fußball brachten. Heute hätten solche Importe nicht mehr die Bedeutung wie damals, weil sich die Niveaus der Länder, bei allen Differenzen, mehr angeglichen haben. Aber 1950 in Brasilien – da waren 80 Prozent Analphabeten, die Kommunikation war miserabel, die Industrialisierung stand ganz am Anfang. Fußball und allgemein Sport, das war ein außerordentlich starkes Element der Modernität. Es war die englische Elite, die Fußball zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Brasilien gebracht hat, wir haben uns ihn angeeignet und veredelt, und dann verliert unsere Mannschaft im Endspiel, elf Minuten vor Schluss, durch jenes Tor von Ghiggia!
Der große Favorit Brasilien hatte vorher 4:0 gegen Mexiko, 7:1 gegen Schweden und 6:1 gegen Spanien gewonnen.
Eben. Brasilien hatte sich längst ein riesiges Prestige als Fußballnation erworben. Gehen wir mal von 1950 ein halbes Jahrhundert zurück: Wenn eine Kultur ein neues Element aufnimmt – das war in Brasilien mit dem Fußball nicht anders als bei einem Indianerstamm, der plötzlich ein Radio hat –, dann wird dieses Neue angepasst, und dabei entsteht eine neue Dynamik. Der Fußball verließ also schnell die elitären Zirkel, der Amateursport professionalisierte sich, plötzlich gab es schwarze Spieler, wobei die Frage auftrat, ob man die zu den Tanzvergnügen der sozial elitären Clubs zulassen sollte, für die sie spielten.
Solche Spannungen müssen doch eher ein Hindernis für den Erfolg gewesen sein.
Ja, aber das war 1950 überwunden. Bei der ersten Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay hatte Brasilien schlecht abgeschnitten, aber danach eigneten sich die Brasilianer Fußball-Technologie an, zum Beispiel Trainingstechniken, und hinzu kam eine eigene Kreativität. Schon bei der WM 1938 waren die Brasilianer eine Sensation, weil sie ganz neue Spielformen erfunden hatten. Jedes Land, jeder Kultur bildet ja eigene Körpertechniken aus. Und wenn die Erfolg haben, tut das dem Selbstbewusstsein gut. Insofern zerstört der Fußball die klassischen Theorien vom Kulturimperialismus.