Was hat sich nach den Gruppenvergewaltigungen und den Massenprotesten in Indien getan? „Zu wenig“, sagt die bekannte indische Frauenrechtlerin Ranjana Kumari im Interview mit der StZ.

Neu-Delhi - Etwa acht Monate ist es her, dass die brutale Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in Neu-Delhi Massenproteste ausgelöst hat. Am Samstag will ein Gericht das erste Urteil gegen einen der Täter sprechen. Die bekannte indische Frauenrechtlerin Ranjana Kumari, eine Ikone der indischen Frauenrechtsbewegung und Direktorin des 1983 von ihr gegründeten Centre for Social Research in Neu-Delhi, spricht über die Lage heute, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, Erziehung und das Selbstverständnis der Männer.

 
Frau Kumari, wochenlang sind zum Jahreswechsel vor allem junge Menschen auf die Straße gezogen, um gegen die Gewalt gegen Frauen zu demonstrieren. Hat sich die Lage seitdem verbessert?
Die Bilanz ist gemischt. Positiv ist, dass es einen Bewusstseinswandel gibt und Teile der Gesellschaft Gewalt gegen Frauen nicht mehr einfach hinnehmen. Nach der Gruppenvergewaltigung einer jungen Fotografin in Mumbai vergangene Woche gab es sofort Proteste. Die Gesellschaft reagiert. Vor einigen Jahren war das noch nicht der Fall.
Dennoch geht die Serie von Vergewaltigungen unvermindert weiter. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Zeitungen nicht über neue Schreckenstaten berichten.
Ja, vor allem die Reaktion des Staates ist ernüchternd. Politiker und Polizei versagen. Sie zeigen keine ernsthaften Anstrengungen, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. In Delhi haben sich die gemeldeten Vergewaltigungen seit Dezember verdoppelt. Wenn Polizei und Politik nur 50 Fälle strikt und zügig verfolgt hätten, hätte dies eine klare Botschaft ausgesandt, dass Vergewaltiger ins Gefängnis wandern. Aber dies ist nicht passiert. Einer der Täter von Mumbai soll bereits sechs Frauen vergewaltigt haben, bevor er die Fotojournalistin angriff. Aber er war auf freien Fuß. Aus diesen Gründen respektiert niemand das Gesetz.
Sie klingen frustriert.
Ich bin total enttäuscht. Wir sind alle sehr traurig. Nach den Protesten gab es große Hoffnungen, dass sich etwas bewegt. Aber wir sehen keine großen Fortschritte. Die politische Klasse verhält sich unverantwortlich. Selbst nach der jüngsten Vergewaltigung in Mumbai haben Politiker die Schuld den Opfern zugeschoben. Die Polizei reagiert nur, wenn es öffentlichen Druck und Proteste gibt. Aber wir können nicht jeden Tag auf die Straße gehen.
Die Regierung hat eigens Schnellgerichte eingerichtet, damit Vergewaltiger künftig zügiger verurteilt werden.
Die Schnellgerichte bedeuten lediglich, dass die Polizei die Anklageschrift binnen 90 Tagen vorlegen muss. Das Gerichtsverfahren selbst wird dadurch nicht zügiger. Viele Frauen warten fünf oder sogar zehn Jahre, bis es zu Urteilen kommt.