Es ist zwar unwahrscheinlich, aber möglich, dass man selbst einmal ein Spenderorgan braucht. Das ist doch ein gutes Argument für einen Spenderausweis, findet der Philosoph Hartmut Kliemt. Ein Gespräch über Gerechtigkeit und die Krankheiten des Systems.

Stuttgart – Werde ich einmal ein Spenderorgan benötigen? Der Frankfurter Philosoph Hartmut Kliemt wünscht sich, dass möglichst viele Menschen in dieser Weise über das Leben nachdenken. Noch besser wäre seiner Ansicht nach, wenn der Gesetzgeber allen Unschlüssigen eine Antwort nahelegte: Man ist Spender, sofern man nicht widerspricht. Im StZ-Gespräch mit Christine Pander erläutert er, wie ein gerechtes System der Transplantationsmedizin aussehen könnte.
Herr Kliemt, wer sollte entscheiden, wie Spenderorgane verteilt werden?
Organe müssen nach rechtsstaatlichen Regeln verteilt werden. Diese Regeln sollten möglichst keinen Raum für Interpretationen lassen. Der Gesetzgeber muss alle wesentlichen Belange der Verteilung selbst entscheiden. Er darf diese Entscheidungen nur sehr begrenzt an Experten wie die ständige Kommission der Bundesärztekammer delegieren. Im Rechtsstaat muss der Gesetzgeber letztlich dafür sorgen, dass die Verteilung überprüfbar ist.

An den Unikliniken Göttingen und Regensburg konnten Ärzte ihren Patienten dennoch bevorzugt Spenderlebern organisieren.
Wir alle erwarten, dass Ärzte Partei für uns ergreifen, wenn wir krank sind. Gute Ärzte versuchen stets, soweit die Regeln das zulassen, das Maximum für ihren Patienten herauszuholen. Dazu sind sie auch ethisch verpflichtet. Der offene Bruch der Regeln ist aber gänzlich unzulässig.

Wo krankt das System?
Die Spender dürfen nicht äußern, wer der Empfänger ihres Geschenks ist. Das ist wie eine Enteignung: Bei dieser Art von Organsozialismus verliert der Spender jede Mitsprache. Warum sind eigentlich Organe öffentliches Eigentum? Meine Niere ist doch zunächst einmal meine Niere. Meine Goldzähne darf ich auch an meine Tochter vererben. Warum soll mein Organ nicht an jemanden gehen, der auch bereit gewesen wäre, mir zu helfen?

Wäre das noch gerecht?
Es wäre zumindest gerechter als unsere jetzige Regelung. Warum soll ein Mensch, der selbst einer Organentnahme widerspricht, gleichberechtigt empfangen dürfen?

Sollten alle Menschen zu potenziellen Spendern erklärt werden?
Wir sind nach deutschem Recht zur Hilfe verpflichtet und können bestraft werden, wenn wir sie unterlassen. Für die postmortale Spende gilt das nicht. Die einzig saubere Lösung in unserem Rechtssystem ist, alle zur Spende zu verpflichten. Natürlich gibt es das Weltanschauungsprivileg, deshalb müsste ein Widerspruch möglich sein – wie früher beim Wehrdienst.

Wäre diese Widerspruchslösung dann der Königsweg zu mehr Organen?
Nein. Sie würde das Organaufkommen steigern, aber sie allein reicht nicht aus. Dazu gehören auch eine zentrale Krankenhausstruktur und bezahlte Transplantationsbeauftragte in den Kliniken. Wenn das – wie in Spanien – zusammenkommt, wird man hohe Spenderzahlen haben.

Was würden Sie verändern?
Wenn man weiß, dass man bevorzugt ein Organ bekommt, wenn man sich auch als Spender bereit erklärt, dann fängt man an, über das Leben nachzudenken – und nicht über den Tod. Das ist eine völlig andere Denkweise. Der Spender denkt an sich vor allem auch als Empfänger. Das würde der Transplantationsmedizin und der Spendenbereitschaft sehr guttun.

Deshalb füllt aber niemand einen Ausweis aus.
Nein, das allein würde die normale Trägheit im Alltag nicht ändern, weil die Wahrscheinlichkeit so gering ist, dass man ein Spenderorgan braucht. Da macht man sich erst einmal keine Gedanken, man geht schließlich auch nicht zu allen Vorsorgeuntersuchungen. Eine Versicherung auf Gegenseitigkeit bei der Spende würden wir hingegen behandeln wie heute unsere Haftpflichtversicherung: Jeder hat sie, und keiner überlegt sich, ob er sie braucht. Es wäre doch schön, wenn das irgendwann auch für die Organspende gelten könnte – eine Art Versicherung für den Fall der Fälle.

Ist die Psychologie dahinter nicht die gleiche wie bei der Widerspruchsregelung?
In der Tat ist das ähnlich. Man bleibt vermutlich Spender, aus Trägheit und Entscheidungsunlust. Es scheint mir zumutbar, einen Widerspruch einzulegen, wenn man nicht spenden möchte. Dazu brauchen wir nur das vorgesehene zentrale Register, in dem Zustimmung und Widerspruch zur Organentnahme festgehalten werden. Es ist dann garantiert, dass der Widerspruch gewahrt wird. Das ist momentan nicht gesichert. Heute werden Hinterbliebene nach dem Willen des Verstorbenen gefragt. Aber wenn die Hinterbliebenen die Organe frei geben, fragt keiner mehr nach.

Warum gab es das Register bisher nicht?
Dahinter stecken vermutlich auch handfeste Interessen. Wenn heute die Hinterbliebenen ohne ausdrückliche Einschränkung einer Organentnahme zustimmen, dann kann man alle Gewebe entnehmen. Die Organe haben keinen direkten kommerziellen Wert, andere Gewebe schon. Natürlich muss man auch an aufbereiteten menschlichem Gewebe verdienen können. Sonst gäbe es diese Heilmittel nicht. Aber eine Art Verbund zwischen denjenigen, die im Auftrag der Deutschen Stiftung Organtransplantation Organe entnehmen, und Aufbereitungsfirmen, die andere Gewebe entnehmen, darf es nicht geben.

Früher waren Sie Verfechter des Clubmodells, bei dem nur ein Organ bekommt, wer selbst zur Organspende bereit ist.
Clubmodell – was für ein schrecklicher Begriff! 1991 habe ich mich als Ökonom zur Diskussion geäußert. Jeder Ökonom, der sein Geld wert ist, würde in Bezug auf die Organspende spontan sagen: gründet einen Club. Denn nach der ökonomischen Theorie sind Versicherungen eben Clubs. Aber eine rein private Clublösung kann nicht funktionieren. Erst wenn der Club so groß ist, dass man bei eigener Bedürftigkeit voraussichtlich ein gerade hirntotes Clubmitglied finden kann, bietet dies einen Anreiz zum Beitritt. In Amerika versucht man sich seit mehr als zehn Jahren erfolglos daran. Es spricht vieles dafür, dass es sich nicht um eine private, sondern um eine öffentliche Aufgabe handelt.

Gäbe es mit der Widerspruchsregelung eines Tages zu viele Organe?
Nein, bestimmt nicht. Die Medizin entwickelt immer neue Therapien. Die Sicherheit im Alltag wird zugleich immer größer. Deshalb haben wir weniger Unfalltote, die als Spender infrage kommen. Die Organe werden extrem knapp bleiben. Und: die Menschen werden schließlich immer älter – die Anzahl der transplantationsbedürftigen chronisch Kranken wird steigen.