Wie erklärt sich ein plötzlicher Gewaltausbruch wie am Samstag an der S-Bahn-Haltestelle Schwabstraße am Samstag , wo ein 27-Jähriger von einem Angreifer niedergeprügelt wurde? Antworten hat ein Psychologe.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart -

 
Herr Gallwitz, ein Mann schlägt einen anderen an der S-Bahn-Station ohne erkennbaren Grund nieder und prügelt auf ihn ein. Eine große Zahl Umstehender registriert den Vorfall und hilft nicht – ein aktueller Fall aus Stuttgart. Haben Sie als Psychologe dafür eine Erklärung?
Wir erleben immer wieder Fälle von Hasskriminalität, wo jemand aus heiterem Himmel angegriffen wird. Das ist sowohl für das Opfer wie auch für die Umstehenden etwas unheimlich Schockierendes. Man hat keine Erklärung dafür, was da gerade passiert. Man glaubt, im falschen Film zu sein, und beruhigt sich dann selbst mit der Vermutung, dass es da wohl irgendeine Vorgeschichte geben muss.
. . . und unternimmt deshalb nichts?
Je mehr Leute so etwas sehen, desto geringer ist der Schuldanteil bei jedem Einzelnen, wenn er nichts tut. Das ist das sogenannte Bystander-Phänomen. Wenn nur zwei Leute da sind und es passiert etwas, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass einer von beiden einschreitet, als wenn 20 oder 50 Leute anwesend sind.
Ab welcher Anzahl von Personen fühlt man sich selbst unbeteiligt?
Bei mehr als 20 Personen geht man im Stillen davon aus, dass jemand dabei ist, der körperlich und mental geeigneter ist zu helfen. Wenn alle anderen nichts machen, muss das irgendeinen Grund haben – denkt man. Am Ende unternimmt niemand etwas. So war das auch in einer S-Bahn in Hamburg. Da hat der ganze Wagen einer versuchten Vergewaltigung zugeschaut. An der Endstation stieg das Opfer mit den anderen Fahrgästen aus, und der Täter fuhr unbehelligt zurück.
Wie kann man so eine Mauer des Schweigens durchbrechen?
Ein einzelner Beherzter kann Menschen in seiner unmittelbaren Nähe ansprechen und sagen: „Kommen Sie! Helfen Sie mir, da braucht jemand Hilfe!“ Die Ansprache ist ganz wichtig. Dabei zeigt sich immer wieder, dass Leute, die haupt- oder nebenberuflich mit Feuerwehren, Hilfsorganisationen oder der Polizei zu tun haben, aus Erfahrung wissen, wie man richtig reagiert. Die meisten anderen sind unerfahren. Sie haben außer acht Doppelstunden Erste Hilfe nicht gelernt, wie man sich in Notsituationen richtig verhält. Hilfe hat auch etwas mit Wissen und Erfahrung zu tun.
Was muss man noch wissen?
Im S-, U-Bahn- und generell im Bahnbereich ist es relativ einfach, die Bundespolizei per Notruf zu verständigen. In extremen Situationen innerhalb des Zuges ist es auch möglich, außer den Notruf zu betätigen, die Notbremse zu ziehen. Der Zug fährt bis in den nächsten Bahnhof, und dort wartet dann schon jemand von der Bundespolizei und kann helfen. Das Wichtigste ist immer, die Lage richtig einschätzen zu können. Zivilcourage bedeutet nicht, den Helden spielen zu müssen.
Wie bringt man das an die Leute?
Die Bahn hat in der Vergangenheit immer wieder Merkblätter ausgehängt und ausgelegt, in denen darauf hingewiesen wurde, wie wichtig aufmerksames Hinschauen und Hilfeholen ist. Für solche Aktionen wäre es jetzt wieder an der Zeit. Es sind im öffentlichen Raum genügend Werbeflächen vorhanden, um eine Aufklärungskampagne zu starten. Ich hielte es auch für gut, Beispiele für richtiges Verhalten öffentlich herauszustellen und zu würdigen – etwa indem man diese Personen mit einer Bürgermedaille auszeichnet.