Im Winter sollen schärfere Regeln gelten, wenn die Pandemielage sich verschärft. Wie das gemessen werden soll, darüber ist die Politik noch uneins. Wir zeigen, welche Indikatoren vorgeschlagen sind, welche Daten sinnvoll sind – und welche fehlen.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Diese Woche verhandelt die Bundesregierung mit den Ländern über das Infektionsschutzgesetz. Es soll schärfere Regeln erlauben, wenn sich die Pandemielage im Winterhalbjahr zuspitzt. Doch wie stellt man das fest? Dazu stellen sich viele Fragen.

 

Welche Coronaregeln gelten im Herbst? Den Rahmen gibt das Infektionsschutzgesetz vor. Der (bislang nicht veröffentlichte, unserer Zeitung aber vorliegende) Entwurfstext würde es den Bundesländern erlauben, eine relativ umfassende Maskenpflicht in Innenräumen zu bestimmen. Einschränkungen wie Personenobergrenzen für Veranstaltungen sind möglich, wenn „eine konkrete Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems oder der sonstigen kritischen Infrastrukturen besteht“.

Wie soll das festgestellt werden? Der Entwurfstext nennt fünf Indikatoren: Abwassermonitoring, Sieben-Tage-Inzidenz, RKI-Daten zu akuten Atemwegserkrankungen, die Hospitalisierungsrate sowie „die verfügbaren stationären Versorgungskapazitäten“. Daraus solle aber kein „Gesamtscore“ ermittelt werden, sagte der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Freitag: „Das klappt nicht.“

Was sagen die Bundesländer dazu? Einige Landesgesundheitsminister wollen, dass wie bisher konkrete Schwellenwerte die schärferen Regeln auslösen – typischerweise bei Inzidenzwert, Hospitalisierungsrate und Intensivpatienten. Dieses Vorgehen sei aber „immer wieder gescheitert“, sagte Minister Lauterbach. Er spielte damit auf die Rechtssicherheit an. Schärfere Coronaregeln hätten vor Gericht eher Bestand, wenn keine konkreten Grenzwerte gelten, sondern die Länder anhand mehrerer Indikatoren eine „konkrete Gefahr“ feststellen.

Was taugen klassische Indikatoren? Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die laborbestätigten Neuinfektionen je 100 000 Einwohner, ist wegen des stark veränderten Testverhaltens und der hohen Dunkelziffer nur noch ein Trendindikator für steigende oder sinkende Infektionszahlen – das bestätigten jüngst Auswertungen der RKI-„Datenspende“-App. Die Hospitalisierungsrate gibt an, wie viele Coronainfizierte binnen einer Woche neu ins Krankenhaus eingewiesen wurden. Sie zählt aber diejenigen mit, die gar nicht wegen Covid-19 behandelt werden. Somit vermischt sie Infektions- und Krankheitslast.

Ähnlich ist es mit der Zahl freier Intensivbetten. Sie ging während der Sommerwelle deutlich zurück – nicht weil so viele Patienten mit schweren Verläufen behandelt wurden, sondern weil coronabedingt viel Personal ausfiel und Betten nicht betreibbar waren. Trotzdem muss zusätzlich die Zahl der Intensivpatienten beobachtet werden. Sie ist der zuverlässigste Indikator für schwere Krankheitsverläufe. Allerdings dürfte dieser Aspekt nicht mehr so stark im Mittelpunkt stehen wie in den letzten beiden Wintern.

Was sind die neueren Kennziffern? Seit einigen Monaten meldet das Robert-Koch-Institut (RKI) Daten zu akuten Atemwegserkrankungen. Sie werden in rund 700 Arztpraxen gewonnen und auf Deutschland hochgerechnet – für Covid-19 sowie andere Atemwegserkrankungen. Der Wert eignet sich gut, um die Belastung für Wirtschaft und Infrastruktur zu messen. Krankheitsbedingte Ausfälle von Arbeitskräften zu reduzieren wird Stand jetzt die wichtigste Herausforderung im Winterhalbjahr sein.

Abwasserdaten sind eine gute Ergänzung. Dabei wird etwa an Klärwerken die Viruslast im Abwasser gemessen. Erste Analysen zeigen, dass man damit steigende Infektionszahlen gut eine Woche vorher erkennen kann. Im Rahmen eines EU-Projekts werden solche Proben an mittlerweile 20 Stellen bundesweit regelmäßig entnommen.

Ginge es besser? „Die offensichtlichste Frage ist: Wie viele sind überhaupt infiziert?“, sagte der Datenjournalist Björn Schwentker in „Deutschlandfunk Kultur“. Am ehesten ließe sich das mit Zufallsstichproben lösen. Der Corona-Sachverständigenrat verweist in seiner Evaluation der deutschen Pandemiepolitik auf Großbritannien, wo seit April 2020 bis zu 400 000 Menschen pro Monat befragt und untersucht werden. Mittlerweile werden immerhin noch mehr als 100 000 Blutproben pro Monat untersucht. Wissenschaftlich sind solche Daten der Goldstandard.

Was tut die Bundespolitik? Von Mitte September an sollen alle Krankenhäuser die Zahl der aufgestellten und belegten Betten ans RKI melden – über das digitale System Demis, nicht wie bisher per Fax. Aus Sicht der Krankenhausgesellschaft ist das unrealistisch. Der Ausgang ist ungewiss; der Bundestag stimmt am 8. September darüber ebenso ab wie über den rechtlichen Rahmen für Abwasserproben und repräsentative Bevölkerungsstichproben, mit denen die tatsächliche Infektionsrate besser als bisher gemessen werden kann.