Innerhalb des olympischen Zirkels ist Thomas Bach (67) so unantastbar, wie er es mit dem Florett nie war. Das hat damit zu tun, dass mehr als die Hälfte der 103 IOC-Vollmitglieder in seiner achtjährigen Amtszeit ernannt worden sind. Aber auch mit seiner Arbeit, seinem Auftreten, seinen Argumenten. Bach steht und lebt für das IOC, intern wird der frühere Ministrant von vielen als eine Art Heilsbringer gesehen. Anders lassen sich die Szenen nicht interpretieren, die sich abspielten, nachdem er im Juli 2020 bei der ersten Video-Vollversammlung verkündet hatte, erneut zu kandidieren. Es folgten zahllose Lobpreisungen und Jubelarien seiner Gefolgsleute, für die sinnbildlich Khunying Patama Leeswadtrakul stand. „Niemand kann Sie ersetzen, Ihre Führung, Ihre Weisheit“, sagte die Geschäftsfrau aus Bangkok, ehe sie die Hände vor ihrem gesenkten Kopf faltete. „Thank you, Mister President!“
Der Präsident liebt das Pathos
Ähnliche Botschaften dürften auch von der 137. IOC-Session ausgehen, die erneut virtuell stattfindet, von Mittwoch bis Freitag. 31 Punkte stehen auf der Tagesordnung. Am wichtigsten ist die Wahl von Bach, die eigentlich keine ist und entsprechend schnell gehen dürfte. Sogar ein einstimmiges Votum scheint möglich. Es wäre eine Genugtuung für den Juristen aus Tauberbischofsheim, den die Kritiker so gerne anklagen. Als Alleinherrscher im Olymp. Als Machtmenschen. Als Führer einer korrupten Organisation, welche die Werte des Sports missbraucht, um sich selbst zu bereichern. Thomas Bach, in dessen Amtszeit das IOC laut WDR-Recherechen TV- und Werbeverträge im Wert von 17 Milliarden Euro abgeschlossen hat, besitzt die bemerkenswerte Gabe, solche Stimmen zu überhören. Und stattdessen darauf zu verweisen, um was es aus seiner Sicht geht: „Um die Tatsache, dass Olympische Spiele das einzige Ereignis sind, dem es nach wie vor gelingt, die gesamte Welt an einem Ort zusammenzubringen.“
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Aus dem Pathos, der sich in dieser Aussage widerspiegelt, nährt sich vieles. Bach glaubt fest daran, dass die Austragung der auf 2021 verschobenen Sommerspiele in Tokio ein Symbol für den erfolgreichen Kampf gegen das Coronavirus sein wird. Er ist überzeugt, dass die Kraft der olympischen Idee Grenzen überwinden kann (und würde dafür den Friedensnobelpreis nicht ablehnen). Und er sieht sich, wenn er Reden vor der UN-Vollversammlung oder beim G20-Gipfeltreffen hält, auf Augenhöhe mit den wichtigsten Politikern des Planten. Da kann man schon mal den Blick für die Details verlieren.
Das Thema Russland wird Bach nicht los
Angetreten ist Thomas Bach vor acht Jahren mit dem Ziel, als Reformer und Visionär in die olympische Geschichte einzugehen. Seine Agenda 2020 versprach kostengünstigere Spiele, transparente Bewerbungsprozesse, mehr Nachhaltigkeit. Und auch, die Athleten stärker in den Mittelpunkt zu rücken. „Anfangs war er sehr engagiert und ambitioniert, hat gute Vorschläge gemacht“, sagt Clemens Prokop, von 2001 bis 2017 Chef des Deutschen Leichtathletik-Verbandes und einer der großen Kritiker von Thomas Bach, „doch danach hat er mich sehr enttäuscht. Im IOC dominieren weiter die wirtschaftlichen Interessen, und die Causa Russland war sein großer moralischer Sündenfall.“
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Es ist das Thema, das Bach seit seiner Wahl begleitet. Das er nicht gelöst bekommt. Und das er nicht los wird. Die Winterspiele 2014 in Sotschi waren die ersten unter seiner Ägide, sie stehen für Gigantismus, Zerstörung der Natur, Missachtung der Menschenrechte. Aber auch dafür, dass der Sport mit Füßen getreten wurde. Durch ein Loch in der Wand des offiziellen Dopinglabors tauschten die Russen positive Proben aus, das gehörte zum staatlich gelenkten Dopingbetrug, an dem über 1000 Athleten beteiligt gewesen sein sollen. Das IOC? Schob 2016 bei den Sommerspielen in Rio die Verantwortung seinen Fachverbänden zu. Statt Russland auszuschließen, nickte es die Starterlaubnis für 278 Sportlerinnen und Sportler ab, verhinderte aber die Teilnahme von Julia Stepanowa. Mit der Begründung, die russische Leichtathletin, die als Whistleblowerin den Skandal aufgedeckt hatte, genüge den „ethischen Anforderungen“ nicht.
Zu viel Milde gezeigt?
Völlig anders waren die Maßstäbe bei den Winterspielen in Pyeongchang. Dort starteten 168 Russen, die auf ihre Flagge und Hymne verzichten mussten, viel mehr als Symbolik aber war das nicht. Ähnlich wird es 2021 in Tokio und 2022 in Peking aussehen. Womit Thomas Bach, dem eine enge Verbindung zu Wladimir Putin nachgesagt wird, ganz gut leben kann. Andere eher nicht. „Russland hat mit seinem Dopingsystem einen Zentralangriff auf die olympischen Werte gestartet“, sagt Clemens Prokop, „doch Bach und das IOC haben eine Milde gezeigt, die mit ihrer eigenen Charta unvereinbar ist.“
Aber Doping ist nicht die einzige Geißel des IOC. Das nächste Unheil droht im kommenden Winter in China. Weil den Machthabern vorgeworfen wird, Gräueltaten an der uigurischen Minderheit zu verüben, gibt es erste Boykottandrohungen für Peking 2022. Aber bisher keine Meinung des IOC. „Bach darf das Thema Menschenrechte nicht übergehen“, fordert Prokop, und Dagmar Freitag (SPD), die Sportausschussvorsitzende des Bundestages, schimpft: „Wenn es darum geht, klar Position zu beziehen, bleibt Bach blass.“
Den IOC-Boss, so ist zu vermuten, werden auch diese Stimmen nicht stören. Er sieht seine Mission nicht darin, Kritiker in der Heimat zu überzeugen. Stattdessen will er seine Reformen vorantreiben, die nun unter dem Titel Agenda 2020+5 firmieren. Nichts zu finden ist dort übrigens zur Frage, wie Bach seine Nachfolge zu regeln gedenkt. Ob an den Spekulationen etwas dran ist, er denke darüber nach, wie er die Charta, die seine Amtszeit auf zwölf Jahre begrenzt, aushebeln könnte? Ausgeschlossen ist das nicht. In der Kunst des Taktierens macht dem früheren Fechter schließlich niemand etwas vor.