Noch in diesem Monat könnte die lang erwartete Offensive auf die IS-Hochburg Mossul im Nordirak beginnen. Helfer rechnen mit bis zu 700 000 Flüchtlingen und warnen: Wir sind darauf nicht vorbereitet.

Erbil - Allein am vergangenen Dienstag waren es wieder mehr als 800 Neuankömmlinge. Kinder, Frauen und Männer, die auf dem Weg in eine unbekannte Zukunft über Stunden zu Fuß laufen mussten, bis sie in Sicherheit vor den IS-Extremisten waren. Und schließlich in Debaga landeten, einem staubigen Flüchtlingslager im Nordirak, wo den Leiter des Camps vor allem eine Sorge plagt: Wohin mit den vielen Menschen?

 

Rizgar Hubed hat eine kurze Antwort auf die Frage, was sein größtes Problem ist: „Platz“, sagt er. „Wir haben keinen Platz mehr.“

Es droht eine Massenflucht

Rund 26 000 Vertriebene sind mittlerweile in Debaga untergebracht, was bedeutet: Das Lager ist voll. Dabei könnte der größte Zustrom von Flüchtlingen erst noch kommen. Denn eine Allianz aus verschiedenen Kräften plant eine Offensive auf die Großstadt Mossul, letzte Hochburg der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak. Schon sehr bald könnte die Militäroperation beginnen - und eine Massenflucht auslösen, die Hilfsorganisationen große Sorgen bereitet.

Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR rechnen damit, dass zwischen 200 000 und - im schlimmsten Fall - 700 000 Menschen vor den Kämpfen fliehen und auf Hilfe angewiesen sein könnten. Schon allein die schiere Zahl stellt die Helfer vor massive Probleme, vor allem dann, wenn viele Menschen in sehr kurzer Zeit kommen sollten.

Hilfsorganisationen sind besorgt

Karl Schembri, Sprecher der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council (NRC), erinnert sich mit Schrecken an den Sommer zurück, als irakische Kräfte die IS-Hochburg Falludscha im Osten des Landes zurückeroberten. Dort seien in nur wenigen Tagen 30 000 Menschen geflohen. „Sie haben die Camps überflutet“, sagte Schembri. Die Hilfsorganisationen waren machtlos. „Viele Familien mussten über Wochen ohne Zelte oder irgendeinen anderen Schutz leben.“ Und das mitten im Sommer in einer ohnehin lebensfeindlichen Wüstengegend.

Jetzt sind Schembri und seine Kollegen in Aufruhr, weil es aus ihrer Sicht bislang für Vertriebene aus Mossul viel zu wenige Camps, die tatsächlich bereit sind. So hätten bei den ausgewiesenen Notaufnahmelagern Ausbau und Einrichtung bisher kaum begonnen, klagt das Hilfswerk Oxfam. Der NRC und andere Hilfsorganisationen halten zudem mehrere Standorte für völlig ungeeignet, weil sie zu nahe an der Front liegen und für Helfer nicht zu erreichen sind.

Kritik an der Zentralregierung

Bislang gebe es in sechs Notaufnahmelagern und Camps nur Plätze für rund 51 000 Menschen, sagt Schembri. Im Bau oder in Planung sind außerdem Plätze für rund 230 000 Menschen, wobei ungewiss ist, wann diese überhaupt fertig werden. „Das ist eine riesige Lücke“, warnt Schembri. „In dem Moment, in dem ein solcher Strom von Menschen kommt, wird die Lage chaotisch werden.“

Aus Helferkreisen ist dabei Unmut über die Zentralregierung in Bagdad und die Regierung der kurdischen Autonomiegebiete zu hören. Orte für mögliche Lager seien zu spät identifiziert worden. „Wir müssen mit zu vielen Unbekannten planen“, heißt es. Erst vor zwei Wochen hätten die Hilfsorganisationen Einzelheiten der Militärplanung erfahren. „Und jetzt sollen wir die Kapazitäten aufbauen. Wir haben keine Chance, vorbereitet zu sein.“

Überall fehlt es an Geld

Doch Platz für neue Lager zu finden hört sich einfacher an, als es tatsächlich ist. Das weiß auch Frederic Cussigh, Koordinator beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das seinen lokalen Sitz in Erbil hat, Hauptstadt der kurdischen Autonomiegebiete. „Öffentliches Land ist rar“, sagt der Franzose. „Das ist ein Problem, weil die Regierung nicht die Mittel hat, um privates Land für neue Lager zu mieten.“ Wegen des niedrigen Ölpreises gehen dem Land die Einnahmen aus.

Überhaupt fehlt allerorten Geld. 200 Millionen US-Dollar (180 Millionen Euro) braucht der UNHCR, um die Flüchtlinge in der Region Mossul versorgen zu können. Davon hat er bisher lediglich ein Drittel erhalten. „Die humanitäre Hilfe im Irak ist chronisch massiv unterfinanziert“, sagt NRC-Sprecher Schembri. „Der Irak wird nur als Sicherheitsfrage wahrgenommen.“ Dabei leben in dem Krisenland schon jetzt den UN zufolge zehn Millionen Menschen, die Hilfe brauchen.

Keine sichere Fluchtroute

Im Nordirak könnte die Lage im Winter noch schlimmer werden, wenn die Temperaturen fallen. „Es wird sehr bald schneien und frieren“, sagt der UNHCR-Koordinator Frederic Cussigh. „Wenn wir kein weiteres Geld für den Winter erhalten, gibt es eine riesige Lücke.“

Und noch etwas bereitet den Helfern starke Kopfschmerzen: dass viele Menschen auf der Flucht aus Mossul verletzt oder getötet werden könnten. „In Falludscha starben die Menschen, weil es keine sichere Routen gab“, sagt Becky Bakr Abdulla vom NRC. „Das ist jetzt unsere Sorge. Bislang sind keine Fluchtrouten identifiziert worden. Wir werden Menschen sehen, die in der Schusslinie festsitzen werden.“