Das Ergebnis der Regionalparlamentswahl in Nordirland wird mit Spannung erwartet. Kommt in Belfast keine handlungsfähige Regierung zustande, übernähme London interimsweise das Zepter: eine schlechte Basis für den Brexit, den Irland eh fürchtet.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

Dublin - Noch sind die Grenzschranken Attrappen; als Zollbeamte treten verkleidete Demonstranten auf. Und die Schilder am Grenzübergang sind selbst gepinselt. Mit Protestaktionen dieser Art warnen besorgte Iren vor dem, was sie nun auf ihr Land zukommen sehen: eine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und der Irischen Republik. Die unmittelbar bevorstehende Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft durch London zwingt die Iren, auf alles gefasst zu sein. Schon meldet die Dubliner Regierung, dass sie mit der „Identifizierung möglicher Zollpunkte“ an der Grenze zum Norden begonnen hat.

 

Ihr Land habe keine Wahl, meint Mairead McGuinness, irische Vizepräsidentin des Europaparlaments und Mitglied der regierenden Fine-Gael-Partei. Man müsse Vorbereitungen treffen – auch wenn noch keine Entscheidung gefallen sei. Wie McGuinness befürchten mittlerweile die meisten ihrer Landsleute, dass die Ära der Freizügigkeit und des unbehinderten Warenverkehrs auf der Insel ihrem Ende entgegengeht. Vielen ist noch in Erinnerung, wie es zu Zeiten des blutigen Nordirlandkonflikts an der inner-irischen Grenze aussah. Die Grenzübergänge waren militärisch befestigt. Spürhunde im Einsatz. Inzwischen trifft man nirgendwo mehr auf Schlagbäume oder Uniformen. Niemand will Kofferräume inspizieren oder Ausweispapiere sehen.

Von der Feindschaft zur Koexistenz

Das ist natürlich nur möglich, weil Nordirland Frieden gefunden hat – mit dem Waffenstillstand der Irisch-Republikanischen Armee, dem Karfreitagsabkommen von 1998 und der Abrüstung der paramilitärischen Verbände. Umgekehrt ist aber auch wahr, dass die Öffnung der Grenze Voraussetzung für den Frieden war. Nicht länger abgeschnitten von der Republik und nicht länger Bürger zweiter Klasse, fanden es die Iren in Nordirland – die „nordirischen Katholiken“ – leichter, zu ihren britisch-protestantischen Nachbarn ein neues Verhältnis friedlicher Koexistenz und politischer Zusammenarbeit zu finden. Dabei spielte die EU eine entscheidende Rolle.

Das Vorbild der EU vor Augen und finanziell großzügig unterstützt von den europäischen Partnern, begannen die zwei verfeindeten Lager Nordirlands, zögernd zu kooperieren. Genau wie „der Norden“ und „der Süden“ sich immer mehr aufeinander einließen: auf geschäftsmäßig-nüchterne Weise, quasi nebenher. Kein Wunder, dass der britische EU-Austritt für Irland einen schweren Rückschlag bedeutet. Läuft die EU-Außengrenze künftig quer durch die irische Insel, und muss Nordirland auf Geheiß Londons zusammen mit dem Rest des Königreichs die europäische Zollunion verlassen, kommen beide Staaten nicht umhin, wieder eine Grenze zwischen Derry und Dundalk einzurichten. Nach dem von der Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Theresa May, angepeilten „harten Brexit“, befürchtet die irische Regierung, werde Brüssel alle Importe und London den Zustrom von Migranten überwachen wollen – egal, was man in Dublin oder Belfast von einer solchen Abgrenzung hält.

Auch May wisse sehr wohl, woher der Wind wehe, meint etwa Irlands früherer Regierungschef Bertie Ahern: „Sie streitet ja nicht ab, dass es eine Grenze geben wird.“ In der Tat hat May den Iren lediglich versprochen, sie wolle sich für einen „möglichst reibungslosen“ Grenzverkehr einsetzen. Eine Rückkehr „zu den Grenzen der Vergangenheit“ wolle sie natürlich nicht.

Grenzkontrolle per Überwachungskamera?

Wie die Grenze der Zukunft aussehen könnte, darüber rätselt man beiderseits der Irischen See. Die britische Seite hält es für möglich, dass es ohne Zollhäuschen und -schranken geht. Mays Brexit-Minister David Davis hat eine Grenzkontrolle per Überwachungskamera mit automatischer Registratur von Autokennzeichen vorgeschlagen, „wie sie zwischen Norwegen und Schweden gebräuchlich ist“.

Allerlei Systeme für eine „virtuelle“ Grenze werden begutachtet. Spediteure und Lastwagenfahrer, heißt es in London, könnten Zollgebühren vor der Grenzüberquerung online entrichten. Und wo nötig, könne man Lkw-Ladungen fernab der Grenze, auf speziellen Parkplätzen, inspizieren. Möglicherweise wäre das sogar ein Modell für künftige britische Zollstellen in Dover und anderen Fährhäfen. Das Ganze sei nur eine Frage neuer und innovativer Technologie.

Aber viele sind skeptisch. Immerhin überqueren jeden Monat 177 000 Lastwagen, 208 000 Lieferwagen und 1,8 Millionen Pkw die Grenze zwischen Nord und Süd. „Ich habe noch keinen getroffen, der mir sagen konnte, welche Technologie damit fertig wird“, sagt Bertie Ahern. Vor allem wenn nach dem Brexit Importe aus aller Welt via Großbritannien in Irland einliefen und zu überprüfen wäre, ob sie EU-Standards genügen. Von Schmugglern entlang der 450 Kilometer langen Grenze ganz zu schweigen. „Ein Albtraum“, stöhnen Dubliner Politiker, rolle auf die Grüne Insel zu. Auch die britische Idee, Dublin solle die Daten aller in der Republik eintreffenden Kontinentaleuropäer diskret an London weiterleiten, damit die britischen Behörden unerwünschte Migranten im eigenen Land leichter abfangen könnten, hat in Irland wenig Begeisterung ausgelöst. Als „Handlanger“ der alten Kolonialherren und EU-Abtrünnigen sehen sich die Iren nicht.

Vor allem bangen die Iren um den Frieden

In Gefahr ist so erstmals auch die „gemeinsame Reisezone“ zwischen Irland und Britannien, die die Ex-Kolonialmacht mit der Ex-Kolonie in den 20er Jahren, nach der irischen Unabhängigkeit, absprach und die seither (zumindest theoretisch) die passlose Ein- und Ausreise zwischen dem Vereinigten Königreich und der Irischen Republik ermöglicht. Innerhalb der EU war das nie ein Problem. Und vor dem Beitritt zur EU war die Sache eine britisch-irische Angelegenheit. Nun aber muss seitens Irlands die EU zustimmen – und die hätte wohl Probleme mit der Regelung, würde die „gemeinsame Reisezone“ den Iren doch einen Sonderstatus verschaffen. Und die EU-Außengrenze wäre praktisch keine Grenze mehr.

Vor allem aber bangen die Iren und weitsichtige Politiker in London um den hart errungenen Frieden. Immerhin hat Nordirland im Vorjahr zu 56 Prozent gegen den Brexit gestimmt. Trotzdem wird die Provinz nun aus der EU gezerrt. Käme es dabei entgegen allen besänftigenden Worten doch zu einer „harten Grenze“, könnte das im Grenzgebiet selbst und in ganz Nordirland böse Folgen haben. Republikanische Dissidenten, prophezeit der nordirische Polizeiverband, könnten Grenzposten wieder zu Anschlagszielen erklären. Schlimmstenfalls käme es zum erneuten Aufbrechen der Gewalt. Nordirlands Sozialdemokraten sind überzeugt davon, dass der Brexit nirgends so viel Schaden anrichten wird wie in ihrer Provinz. Und die kleine, auf Aussöhnung bedachte Allianz-Partei hält die Entwicklung schlicht für „eine Katastrophe“.