Großbritannien bemüht sich verzweifelt, sich von Europa zu trennen. Doch ein Stück unbewältigter Vergangenheit holt London ein.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Längst schon hätte ein Brexit-Deal zwischen London und der Europäischen Union erzielt werden können. Aber etwas steht einer Einigung hartnäckig im Weg. Die Frage, was aus der irischen Grenze werden soll, hat die Verhandlungen aufgehalten und immer neu behindert. Sie hat zu bittersten Kontroversen geführt – nicht zuletzt in London selbst.   Britanniens Brexiteers können kaum glauben, dass etwas „Nachrangiges“ wie die irische Grenze die Abkoppelung ihres Landes von Europa so schwierig macht und nun gar den Zusammenhalt ihrer Partei und das Überleben der Regierung gefährdet. Wie kann, fragen sie sich, das Anliegen einer keck gewordenen kleinen Ex-Kolonie so dramatische Folgen haben fürs Vereinigte Königreich?  

 

Denn um eine rechtsgültige Garantie für die Offenhaltung der Grenze zwischen den beiden Teilen Irlands geht es ja beim Backstop, den Dublin verlangt. Eine solche Garantie halten die Iren für nötig, um den Frieden in Nordirland nicht durch neue physische Abgrenzung von der Republik in Gefahr zu bringen.   Dublin sieht London in diesem Punkt in der Pflicht. Beide Staaten unterzeichneten ja am Karfreitag 1998 das Belfaster Friedensabkommen, das Nordirland einen inzwischen zwanzigjährigen Frieden beschert hat.   Welche Folgen der Brexit für dieses Abkommen und für Irland haben würde, wollten die Brexiteers lange nicht wahrhaben. Sie hatten ursprünglich gedacht, dass entweder die Iren im britischen Kielwasser mit aus der EU dampfen müssten – oder dass die EU den Briten aus purem ökonomischem Eigeninteresse unmittelbar freien Handelsverkehr und offene Grenzen anbieten würde.

Tory-Rechte sehen das Friedensabkommen als Hindernis

Weder das eine noch das andere aber ist eingetreten seit dem Brexit-Beschluss.   Stattdessen ist die Backstop-Frage zum zentralen Hindernis bei den Austrittsverhandlungen geworden. Sie scheint auch diese Woche noch   ungelöst zu sein. Kein Wunder, dass die Tory-Rechte den lästigen Karfreitagsvertrag am liebsten auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hätte, dem Brexit zuliebe.   Ausgerechnet ein früherer Nordirland-Minister der Konservativen, der Brexit-Hardliner Owen Paterson, ließ vernehmen, das Friedensabkommen habe „sich überlebt“ und „seine Nützlichkeit verloren“. Boris Johnson riet noch als Außenminister der Premierministerin Theresa May, sie solle alle den Iren gemachten Zusicherungen einfach vergessen. Der Backstop sei „der reinste Wahnsinn“, erklärte er.   Jacob Rees-Mogg, das Sprachrohr der englischen Nationalisten in der Tory-Fraktion, verkündete sogar, dass „diese ganze Geschichte“ mit der irischen Grenze keinerlei Beachtung verdiene. Dass es da ein Problem gebe, sei „reine Einbildung“. Die irische Regierung habe das praktisch erfunden. Wenn man das so höre, meint der prominente irische Kommentator Fintan O’Toole, könne man glauben, dass die irische Grenze „ein übles irisches Komplott gegen die Bevölkerung der Nachbarinsel“ darstelle – „eine von den Iren ausgelegte Schlinge, mit deren Hilfe Britannien in europäischer Knechtschaft gehalten werden soll“.  

Die Grenze besteht seit 1921

In Wahrheit ist die nun bald hundert Jahre alte Grenze quer durch Irland natürlich eine britische Idee gewesen. Mit ihr sonderte London, als irische Nationalisten Selbstverwaltung (Home Rule) verlangten, den von königstreuen Protestanten dominierten Nordosten Irlands vom Rest der Insel ab.   Der Grenzverlauf orientierte sich dabei an der maximalen Fläche, auf der die Unionisten eine solide Mehrheit hatten und die ihnen eine wirtschaftlich existenzfähige Provinz gab.   Sechs der neun Grafschaften Ulsters, des irischen Nordens, wurden zu einem neuen, künstlichen Gebilde gebündelt. Zwei Drittel der nordirischen Bevölkerung bekannten sich damals, im Jahr 1921, zum Protestantismus und zur Krone. Das katholische Bevölkerungsdrittel in Nordirland – und die kleinere Zahl von Protestanten im Süden – wurden bei der Grenzziehung nicht gefragt. Mittlerweile blicken Iren und Briten auf ein Jahrhundert zurück, in dem diese Grenzziehung verheerende Folgen hatte und mit beitrug zu den blutigen nordirischen „Troubles“ des späten 20. Jahrhunderts. Erst der Belfaster Friedensvertrag und die Möglichkeiten gemeinsamer EU-Mitgliedschaft eröffneten einen Weg aus der Misere der Vergangenheit.

Manche fordern schon eine Wiedervereinigung

Von all dem aber war nie die Rede bei der Brexit-Kampagne. Nordirlands Zukunft kam im Konzept der Brexiteers, in deren Begeisterung über erträumte Weltmärkte jenseits der EU, nicht vor. Frühe Bedenken wurden von Wahlkämpfern wie Boris Johnson einfach übergangen. Von irischer Seite wurden die Brexiteers beschuldigt, in der üblichen Arroganz englischer Nationalisten die Bedürfnisse der Nachbarinsel und selbst die Nordirlands zu ignorieren. Britische Proeuropäer warnten, mit ihrer blinden Politik gefährdeten Leute wie Johnson den Zusammenhalt des Königreichs, die britische Union.

Denn mittlerweile sind die ersten Stimmen zu hören, die im Brexit-Chaos eine Wiedervereinigung Irlands fordern. Nur so könne das Grenzproblem letztlich gelöst werden. So argumentieren, wie seit jeher, Irlands Republikaner. Aber auch der eine oder andere nachdenkliche Protestant neigt neuerdings dieser Ansicht zu.   Politisch realisierbar mag ein solches Projekt fürs Erste nicht sein. Aber es ist bezeichnend für die Unruhe, die kompromisslose Brexiteers ausgelöst haben. Immerhin hatte Nordirland, anders als England, beim Brexit-Referendum für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt.

Vielen Konservativen ist das offensichtlich gleichgültig. Einer jüngsten Umfrage zufolge, die erhebliches Aufsehen erregte, wollen 73 Prozent aller englischen Tory-Wähler auch dann am Brexit festhalten, wenn das den nordirischen Friedensprozess gefährden würde. Diese Wähler wissen die Brexit-Hardliner hinter sich. Sie wollen sich ihren Plan von irischen Einwürfen nicht vermasseln lassen.