Im Opernhaus haben die Avantgardekünstler Israel Galván und Niño de Elche der grenzenlosen Expression des Flamencos nachgespürt.

Stuttgart - Rötlich schwebt der Kopf auf der Bühne des Stuttgarter Opernhauses. Bis – mit mehr Lux – der Körper des ganzen Mannes auszumachen ist, der da Ungewöhnliches mit seiner Stimme macht. Von sanft bis kräftig spielt er die Klaviatur der Melodien durch, in enormer Reichweite, tastet Zwischentöne ab, testet ungekannte Varianten von Trillern und Vibratos, während aus dem Dunkel Kratz-, Rutsch- und Schottergeräusche zu hören sind. Im Gastspiel „Mellizo Doble“ („Doppelter Zwilling“) sind Niño de Elche, Sänger, Gitarrist, Komponist und multidisziplinärer Künstler, undIsrael Galván, Tänzer und Choreograf, mal wieder dabei, Grenzen auszuloten. Und zwar die eines Kunstgenres, das eng verbunden ist mit der historischen, sozialen und kulturellen Entwicklung des südspanischen Andalusiens: Flamenco.

 

Elche alias Francisco Contreras und der preisgekrönte Galván zählen nicht nur in Spanien zur Avantgarde. Und Elche, der auch in Rock, Pop und überhaupt interdisziplinär unterwegs ist, hat schon manchen Vertreter des „Flamenco-Establishments“ laut spanischen Zeitungen als „Kulturschänder“ auf die Palme gebracht. In Stuttgart erhielten die beiden Bravorufe. Hatten sie doch in ein faszinierendes Universum aus Tönen, Rhythmen, Figuren, Schritten und Symbolen entführt – mit und ohne die klassischen Zutaten, die auf der Bühne bereit standen wie etwa das Rhythmusinstrument Cajón und andere Kisten, Stühle, Gitarren zwischen allerlei Scheinwerfern.

Ein Stocktanz als stoischer Wirbel

Doch Elche spielte erst einmal pur: Worte und Silben feuerte er wie Salven ins Mikrofon, während Galván in langem Mantel dazu mit Zehen, Fersen, ganzem Fuß, Händen und Körper Rhythmus und Musik lieferte. Danach ging es barfuß und mit Spezialschuhwerk auf Holzpodest und Metallblech, indes Elche in orientalisch anmutende Töne ein- und ausschwang. Apropos Typologien: Den Stocktanz verwandelte Galván in einen stoischen Wirbel, um Elches Intonationen zu unterstützen, im Sitzen tanzte er mal weiblich, mal männlich, mal mit, mal ohne Haarspange, gemeinsam wurde – an eine große Kiste gelehnt – mit dem Mund gescattet, mit dem Körper Percussion gemacht. Und dann doch noch die Gitarre vom Ständer geholt, geklatscht und – kurzes „Tsching“! – die Kastagnette bedient. Zwei „Olés“ waren Krönung und Sahnehäubchen eines Abends, der gnadenlos subjektiv, humor- und gefühlvoll, ohne Partitur den grenzenlosen Möglichkeiten des Flamencos jenseits aller Klischees und Kolonialisierungen nachspürte. Expression pur!