Ein halbes Jahr nach seinem Wahlsieg fällt die Bilanz des Istanbuler Bürgermeisters durchwachsen aus. Ekrem Imamoglu muss fast täglich einen politischen Spagat vollführen.

Istanbul - Er schüttelt Hände, hält Reden, bemüht sich um Kredite für seine Stadt und streitet sich mit Recep Tayyip Erdogan: Als neuer Oberbürgermeister von Istanbul vollführt der türkische Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu fast täglich einen politischen Spagat. Auf der einen Seite will er als Verwaltungschef der größten Stadt des Landes zeigen, was er kann. Auf der anderen Seite will er sich als potenzieller Herausforderer Erdogans bei der nächsten Präsidentenwahl warmlaufen. Im ersten halben Jahr nach seinem Wahlsieg gelingt Imamoglu dieses Kunststück nicht immer.

 

Fast genau sechs Monate ist es her, dass am Bosporus gewählt wurde – und zwar schon zum zweiten Mal, denn Imamoglus ersten Wahlsieg bei den landesweiten Kommunalwahlen im März hatte Erdogans Regierung annullieren lassen.

Imamoglu siegte bei der Wiederholungswahl am 23. Juni mit einem noch größeren Abstand von fast einer Million Stimmen – ein gewaltiger Vertrauensvorschuss für den bis dahin fast unbekannten Kommunalpolitiker von der kemalistischen Opposition. „Alles wird gut“, lautete Imamoglus Wahlslogan. Nach 25 Jahren unter islamistischen Bürgermeistern – mit Erdogan selbst als Begründer dieser langen Herrschaft – trat der 49-jährige Imamoglu an, um Korruption und Vetternwirtschaft zu bekämpfen und die Grundlage für seinen weiteren Aufstieg in der türkischen Politik zu legen: Im Herbst 2023 wählt die Türkei einen neuen Präsidenten.

Der Dauerstau auf den Straßen ist ein wichtiges Thema für die Wähler

Erdogan nimmt Imamoglu ernst. Erdogans Regierungspartei AKP hat im Stadtrat weiter die Mehrheit und versucht, dem Bürgermeister das Leben schwer zu machen. Weil staatliche Banken der Stadt Istanbul seit Imamoglus Amtsantritt keine Kredite mehr geben wollen, musste sich der Bürgermeister kürzlich bei Besuchen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien um ausländische Finanzhilfen bemühen. Nun unterstützt die Deutsche Bank den Ausbau des Istanbuler U-Bahn-Netzes mit 110 Millionen Euro.

Dass Imamoglu so viel Wert auf die Förderung des Nahverkehrs legt, hat einen guten Grund: Der Dauerstau auf den Straßen der 16-Millionen-Metropole ist ein wichtiges Thema für die Wähler. Deshalb hat der neue Bürgermeister angeordnet, sechs städtische U-Bahn-Linien und 24 Busrouten freitags und samstags rund um die Uhr im Betrieb zu halten.

Der Kampf gegen die Korruption ist ein weiterer Schwerpunkt. So stoppte Imamoglu städtische Zahlungen von mehr als 50 Millionen Euro, die unter seinen Vorgängern an regierungsnahe Stiftungen und Vereine flossen. Außerdem kündigte er die Leasingverträge für mehr als tausend Dienstwagen – dadurch spart die Stadt rund acht Millionen Euro im Jahr.

Die große Welle der Hoffnung ist inzwischen abgeebbt

Das kommt an, sagt Journalist Tugrul Eryilmaz von der Istanbuler Lokalzeitung „Istanbul Telgraf“. „Istanbul wird bisher regiert wie von kriminellen Banden, alles läuft über Bestechung. Wenn Imamoglu das in den Griff bekommt, dann wählen wir ihn wieder.“ Doch Eryilmaz und andere kritisieren, dass sich Imamoglu zu sehr mit öffentlichkeitswirksamen Terminen aufhalte, statt sich um die konkrete und wenig glamouröse Arbeit für die Stadt zu kümmern. Der ebenfalls neu gewählte Bürgermeister von Ankara, Manur Yavas, der auch für die Opposition antrat, habe deutlich mehr vorzuweisen, etwa ein Netz von Fahrradwegen und einen neuen Park.

Die große Welle der Hoffnung, die bei seinem Wahlsieg die türkischen Opposition erfasste, ist inzwischen abgeebbt. Journalist Eryilmaz fast die Lage zusammen: „Wenn wir jetzt reflektieren, bin ich etwas bestürzt. Imamoglu ist vor allem mit seinem Image als Mann aus dem Volk beschäftigt und mit seiner Publicity. In Istanbul hat sich nicht viel geändert, außer dass wir jetzt einen beliebten Bürgermeister haben,“ sagt Eryilmaz über Imamoglu.