Der ehemalige Kickers-Kapitän Enzo Marchese erwartet ein enges EM-Finale. Wie ihm die Squadra Azzurra bisher gefällt und ob er die Nationalhymne auch so leidenschaftlich mitsingt, hat er im Interview verraten.

Digital Desk: Johannes Röckinger (jor)

Stuttgart - Über zehn Jahre trug Enzo Marchese das Trikot der Stuttgarter Kickers. Dort entwickelte er sich schnell zum Leader und spielte sich in die Herzen der Fans. 2016 endete das Kapitel Kickers für den heute 38-Jährigen. Heute trainiert der Italiener den Landesligisten SV Böblingen, mit denen er am Mittwochabend ein Testspiel gegen den klassenhöheren VfL Sindelfingen mit 0:3 verlor.

 

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Besser machen soll es am Sonntag die Squadra Azzurra im Finale der Europameisterschaft gegen England im altehrwürdigen Wembley-Stadion. Warum Enzo Marchese von der Mancini-Elf begeistert ist und wie der Italiener die Chancen auf den EM-Titel einschätzt, lesen Sie im Interview.

Herr Marchese, warum hätten die Italiener den EM-Sieg verdient?

Weil die Mannschaft bis auf das Spanien-Spiel einen super Fußball gespielt hat und die Zeit einfach reif ist für einen Titel. Man darf nie vergessen, Italien hat 2018 die Weltmeisterschaft komplett verpasst und jetzt stehen sie im Finale der Europameisterschaft. Was da für ein tolles Team entstanden ist, ist Wahnsinn.

Also kann es im Finale am Sonntag nur einen Sieger geben?

Nein, natürlich nicht. Das ist eine 50:50-Angelegenheit. England hat im Halbfinale gegen Dänemark sein erstes Gegentor im ganzen Turnier kassiert. Das zeigt doch, wie stark das Team gerade in der Defensive ist. Dazu kommt die Atmosphäre in Wembley. Was da gegen Dänemark im Stadion abging, war ja unglaublich – so laut war es dort schon lange nicht mehr. Das wird eine richtig enge Schlacht.

Die italienische Presse überhäuft die Truppe mit Lobeshymnen. Welche Schlagzeile würden Sie für den bisherigen Auftritt der Italiener wählen?

Die Enttäuschung nach der verpassten WM 2018 war im ganzen Land natürlich riesig. Jetzt sind sie plötzlich wieder da. Daher würde ich sagen: „Aus dem Abgrund ins Wembley-Finale“.

Das italienische EM-Märchen hätte gegen Spanien im Halbfinale fast ein jähes Ende gefunden. Italien wankte – fiel aber nicht. Auch dank eines Taktikfuchses an der Seitenlinie ...

... ja, Roberto Mancini hat einen großen Anteil am Erfolg der Italiener. Wenn man allein schon bedenkt, dass Jorginho unter dem ehemaligen Nationaltrainer Giampiero Ventura überhaupt keine Rolle gespielt hat – und jetzt ist er der große Leader der Mannschaft. Das sind so Kleinigkeiten, die zeigen, was für ein Gespür Mancini hat. Vor dem Spanien-Spiel hat er angekündigt, dass Italien wieder zu alten Tugenden zurückgreifen muss – Defensive war angesagt. Und das hat sich ausgezahlt. Wenn du gegen Spanien mit ihrem Tiki-Taka-Fußball mitspielen willst, kann das in die Hose gehen. Das hat Deutschland ja erst vor nicht langer Zeit bitter erleben müssen. Natürlich sind die Italiener auch 120 Minuten gefühlt hinterhergelaufen, aber am Ende hat es gereicht – natürlich auch mit etwas Glück.

Italien hat bei der EM auch durch schnellen Offensiv-Fußball für Begeisterung gesorgt. Das war ja nicht immer so in der Vergangenheit ...

Auch hierfür würde ich Mancini die Verantwortung geben. In der Serie A hatten sich zuletzt einige junge Spieler in den Vordergrund gespielt. Und der Trainer hat es geschafft, eine hungrige Mannschaft aus jungen Spielern wie Chiesa und erfahrenen Jungs wie Bonucci oder Chiellini zu formen. Und dieser Mix zahlt sich jetzt aus. Und gerade mit Spielern wie Verrati, Insigne oder Jorginho kannst du richtig guten Offensiv-Fußball spielen.

ARD-Experte Bastian Schweinsteiger bezeichnete zuletzt das Duo Bonucci/Chiellini als die beste Innenverteidigung der Welt. Hat er recht?

Auch Jose Mourinho hat das vor ein paar Jahren schon behauptet. Da ist schon was dran – auch wenn es auch andere gute Verteidiger gibt. Der Vorteil bei den beiden ist, dass sie eingespielt sind. Zudem sind beide sehr emotionale Spieler – sie können die anderen Spieler in der Defensive enorm pushen und nach vorne bringen.

Scheinbar nicht nur emotional. Giorgio Chiellini scheint auch viel Humor zu besitzen, wie man vor dem Elfmeterschießen gegen Spanien gesehen hat..

Ich sag mal so, der Chiellini war bestimmt auch so gut drauf, weil er wusste, dass er höchstwahrscheinlich nicht zum Zug kommt. Aber im Ernst, er macht immer einen sehr lockeren Eindruck. Auch vor der Nationalhymne merkt man ihm einfach die Vorfreude auf das Spiel an.

Apropos Nationalhymne. Allein die sorgt bei vielen TV-Zuschauern schon für Gänsehaut. Kaum eine andere europäische Nation singt so leidenschaftlich mit.

Ja, das ist schon bemerkenswert. Die freuen sich einfach, die Hymne zu singen – und die singen sie mit Stolz. Sie sind in diesem Moment einfach die Vorsänger für ein ganzes Land. Und die Leidenschaft schwappt dann bis nach Italien.

Singt Enzo Marchese die Hymne auch mit?

Nein, ich stehe jetzt nicht auf und lege mir zum Beispiel die Hand auf die Brust. Ich schaue es mir lieber an und genieße. Da bin ich nicht so wie die meisten meiner Landsleute.

Wo schauen Sie das Spiel am Sonntag?

Das mache ich vom Wetter abhängig. Am liebsten draußen beim Grillen mit Freunden und Familie.

Mit anschließendem Autokorso?

Also bislang habe ich bei der EM noch nicht an Autokorsos teilgenommen. Ich glaube, das letzte Mal, als ich mit den Leuten auf der Straße gefeiert habe, war beim WM-Sieg 2006 in Deutschland. Aber für Sonntag will ich natürlich nichts ausschließen. Mal schauen, was die Emotionen im Falle eines Sieges mit mir machen – vielleicht gehe ich ja doch auf die Straße.

Wie groß ist die Euphorie bei den Italienern vor dem Finale?

Natürlich groß – die italienischen Nationalspieler wissen, dass sie gerade von einer ganzen Nation getragen werden. Vergleichbar mit Deutschland bei der WM 2014 in Brasilien. Da haben die Spieler die Warmherzigkeit und die Begeisterung aus Deutschland übermittelt bekommen. Und diese gute Stimmung führte dann am Ende auch zum Titel. Und das passiert gerade genau so in Italien. Die Italiener haben richtig Bock auf diese Mannschaft und auf die EM. Die Fans wissen, da steht eine Einheit auf dem Platz und zudem spielt auch die Presse mit, die die Mannschaft gerade durch das Turnier trägt. Hier in Deutschland war die Stimmung von Anfang an schlecht. Es wurde alles – insbesondere Löw – von vorne rein infrage gestellt und das spüren auch die Spieler. Für mich war das auch ein Mitgrund für das schwache Abschneiden der Deutschen.