Nach schweren Einbrüchen berappelt sich in Italien das einstige Weltzentrum der Stuhlproduktion auf neue Weise. Gefertigt wird Massenware und individueller Luxus – fast alles für den Export.

Friaul - Das Städtchen Manzano hat seinen Besuchern einen Stuhl vor die Tür gestellt. Wortwörtlich. Zwanzig Meter hoch ist das hölzerne Monstrum, das da am Ortseingang steht. Es ist Wahrzeichen, Denkmal, Glaubensbekenntnis – ein industrielles jedenfalls. Hier in dieser nordöstlichen Ecke Italiens stellen sie Stühle und Sessel her, so konzentriert wie kein anderer Bezirk auf der Welt. Und dabei wollen sie bleiben: kleine Firmen, in einer ganz eigenen Art der Zusammenarbeit; aller Krise und der globalen Konkurrenz zum Trotz.

 

„Wir haben schon auch unsere Schläge ins Gesicht bekommen“, sagt Carlo Piemonte; die Zeiten, in denen Italiens „Stuhl-Distrikt“ um die friulanischen Gemeinden Manzano, San Giovanni al Natisone und Corno di Rosazzo ein Drittel des Weltbedarfs und mehr als die Hälfte des europäischen Marktes abgedeckt hat, seien seit fünfzehn Jahren vorbei. Die Zahlen haben sich in diesem Zeitraum halbiert: die der Firmen auf etwa 600, jene der Beschäftigten auf 4500. „Es hat eine Darwin’sche Auslese stattgefunden: die Anpassungsfähigsten, die Kreativsten haben überlebt“, sagt Piemonte: „Jetzt ist der Umsatz insgesamt mit leichter Aufwärtstendenz wieder stabil, und es gibt Betriebe, die sind ausgerechnet in den letzten Krisenjahren zweistellig gewachsen.“

Mit Schreinern und Korbflechtern fing es vor 150 Jahren an

Piemonte ist Direktor der ASDI, jener Entwicklungsagentur, die den „distretto della sedia“ nach dem großen Einbruch der Nullerjahre derzeit wieder flottbekommt. In seinem Konferenzraum, umgeben von Stühlen in allen Formen, Materialien und Farben, erzählt der junge Jurist, wie alles anfing mit dieser handwerklich-industriellen Spezialisierung vor 150 Jahren: mit den Schreinern und Korbflechtern, die als Wirtschaftsflüchtlinge aus den habsburgischen Gebieten ins italienische Friaul drängten. Das schlichte, rustikale Basismodell von damals, die „Marocca“ mit ihrer Sitzfläche aus Holz oder Strohgeflecht, ist bis heute der klassische Trattoriastuhl in Italien und Frankreich geblieben. In den 1980er Jahren wuchs die Zahl der Beschäftigten im „Stuhl-Distrikt“ dann auf 30 000 Männer und Frauen in (zumeist) Mini-Handwerksbetrieben, die sich auf engem Raum gegenseitig Konkurrenz machten. Bis die Blase platzte, bis Osteuropa – Polen mit seinem vielen Holz als Standortvorteil – sich öffnete, bis die Türkei als zweiter Hauptproduzent im Billigsektor aufschloss, zum Teil mit Maschinen, die friulanische Firmen dorthin zur billigeren Fertigung für sich selbst ausgelagert hatten. Piemonte sagt: „Das war das Ende unseres alten Distrikts und der Beginn des neuen.“

Den Erfolg gesichert, sagt Piemonte, hat eine Scherenbewegung. Einerseits haben sich die Unternehmen des Distrikts in Zuliefernetzwerken und arbeitsteiligen Produktionsketten eng zusammengeschlossen – „sie haben kapiert, dass der Gegner nicht in Italien sitzt, sondern im Ausland“ –, zum anderen machen nicht mehr alle dasselbe. „Jedes Unternehmen hat seine ganz spezielle Identität auf dem Markt entwickelt.“ Und dann gibt’s da noch das Zauberwort schlechthin: „Design, made in Italy“. Es ist weltweit Gold wert. Vor allem bei den offenkundig immer zahlreicheren Kunden, die nicht aufs Geld schauen müssen.

Der Ruf des italienischen Lifestyle in der Welt ebenso wie der neue, kreative Auftritt dort haben den Stuhldistrikt davor bewahrt, vom Inlandsmarkt abhängig zu sein, der nach Jahren des Niedergangs auch jetzt noch nicht wieder anspringt. Die Exportquote des Stuhldistrikts liegt bei durchschnittlich 70 Prozent; doch gerade die bedeutendsten Firmen erzielen ihren Umsatz zu 95 bis 100 Prozent im Ausland.

Gebogene Rundhölzer stehen für die alte Tradition

Im „distretto della sedia“ gibt es Unternehmen, die außerhalb dieses Bezirks niemand kennt, ohne dessen Basisarbeit aber nichts liefe. Italcurvati zum Beispiel. Neben der geschreinerten „Marocca“ verkörpert dieser Betrieb den traditionellen zweiten Strang der Stuhl- und Sesselproduktion: die gebogenen Rundhölzer im Stil der berühmten Marke Thonet. Ein 26-Mann-Betrieb ist das, der schiffsplankendicke Buchen- oder Eschenbohlen unter Dampf aufweicht, als wären es weich gekochte Makkaroni, und so scheinbar mühelos in fast jede gewünschte Kurvenform presst. Die Maschinen dafür, „die haben wir uns selber bauen müssen; die gibt’s auf dem Markt nicht“, sagt Alberto Beltrami, der Inhaber der Firma. Im postmodernen Möbelmarkt, „wo weiche Formen die harten Geraden endlich wieder abgelöst haben“, geht es natürlich auch Italcurvati wieder besser.

Weithin unbekannt ist beispielsweise auch die Firma Palma, die als einzige einschlägige Firma in Westeuropa noch wettbewerbsfähig genug ist, um für ein bekanntes schwedisches Möbelhaus zu fertigen. Knapp 80 Beschäftigte (plus 110 im firmeneigenen rumänischen Sägewerk) stecken allein für diesen Kunden 500 000 Stühle jährlich zusammen, noch einmal so viele im Auftrag anderer und neuerdings auch für eigene Produktlinien. Das Wachstum ist zweistellig. „Wenige Firmen hier haben die Gewinne des Booms in den achtziger Jahren so stark in Innovation und interne Organisation gesteckt wie wir“, sagt Luca Bortolato von der Firmenleitung – und in eine Überwachung, die es der Qualitätskontrolle ermöglicht, jeden einzelnen Stuhl einem konkreten Beschäftigten und im Zweifel dessen Formtiefs zuzuordnen. Bei Palma machen sie alles. Nur die Stroh-Sitzflächen für die Massenproduktion der guten alten „Marocca“, die kommen aus China. „22 000 Lire“, sagt Bartolato, „haben wir vor zwanzig Jahren für einen Stuhl dieses Typs bekommen; heute zahlt uns der Großabnehmer zwölf oder 13 Euro, umgerechnet genau denselben Preis. Wir Produzenten sind es, die verloren haben.“

Mancher Kunde bestellt einen Diwan für 150 000 Euro

Unter den kaum 20 großen Firmen (mit einem Jahresumsatz von mehr als zehn Millionen Euro), den 70 bis 80 mittelgroßen (fünf bis zehn Millionen Euro) und den 500 Minibetrieben gibt es etliche, die mit No-Name-Produkten für Möbelhäuser ganz gut im Geschäft sind. Andere treten dort mit eigener Marke auf: Calligaris an der Spitze, der Riese des Distrikts mit seinen 600 Beschäftigten und mittlerweile – noch so eine Innovation – mit einem eigenen Online-Handel. Und auf so manche Produkte des Stuhldistrikts kleben die jeweiligen Spitzendesigner ihren eigenen Namen: Jean Paul Gaultier zum Beispiel auf seinen, einem altrömischen Streitwagen nachgebildeten Sessel.

Es gibt dort Firmen wie Montbel oder Moroso oder Tonon, die Spitzenhotels rund um den Erdball ausstaffieren, einzelne Stühle für 900 Euro verkaufen und diesen Kunden auch schon mal Diwane für 150 000 Euro das Stück verkaufen: für die Hiltons, die Ritz-Carltons, die Hyatts dieser Welt. Hinzu kommt die Ausstattung von Flughäfen, Kreuzfahrtschiffen oder das Restaurant im Europaparlament. „Der Distrikt ist an allen wichtigen Plätzen der Erde präsent“, sagen sie, „im Kapitol, im Kreml, im Buckingham-Palast, in der Zentrale von Microsoft . . .“ Beim Spitzenausstatter Moroso fragen sie ausdrücklich nach: „Krise? Welche Krise?“

Die einen fertigen erst ab 1000 Stück, andere schon ab fünf

Das Zauberwort in diesem Fall heißt „contract“. Viele Unternehmen gehen von der Stuhl- und Sesselfertigung zur Gesamtausstattung von großen Architektur-Objekten über. Und während die einen – Palma zum Beispiel – erst ab Einheiten von 1000 Stück zu produzieren beginnen, fangen die Luxusfirmen schon ab fünf Exemplaren pro Bestellung an.

Bei anderen wiederum zahlt es sich jetzt aus, dass sie in den Krisenjahren systematisch begonnen haben, tendenziell wachsende Marktnischen zu bearbeiten. Piaval ist mit seinen Designmöbeln längst weg von den sehr konjunkturabhängigen Möbelhäusern. Jetzt stattet man bevorzugt Altenheime aus. Größter Abnehmer ist auch hier, wie bei so vielen Firmen im Stuhl-Distrikt, Germania. „Deutschland mit seinen hohen Qualitätsanforderungen war unser Trainingsfeld für den Weltmarkt“, sagt Lorenzo Piani, der an der Spitze des Familienunternehmens steht.

Piaval baut Halter für Infusionsflaschen in die Sessel ein

Dreißig Beschäftigte fertigen bei Piaval 1500 Sitzgelegenheiten pro Woche, „zu hundert Prozent im eigenen Haus“, wie es heißt, und „Speziallösungen für Kunden mit eingeschränkter Mobilität“. Da sind schon mal Halter für Infusionsflaschen in den Sessel eingebaut, Kissen gegen das Wundliegen oder urin-unempfindliche Stoffe verarbeitet. „Und lebendige Farben“, sagt Piani: „Wir waren der Erste auf dem Markt in diesem Segment, der mit den faden Sanitärtönen gebrochen hat.“ Mögliche Konkurrenten sieht Piani „höchstens in Nord- oder Mitteleuropa“.

Von China spricht da keiner. Und wie so einige im Stuhl-Distrikt, so sagt es auch der Chef von Piaval: Viele Kunden, die bisher in Fernost eingekauft hätten, kämen derzeit zurück nach Italien: „Sie haben inzwischen gelernt, was Qualität heißt und dass sich die Investitionen in den Preis durch Qualität, Eleganz und eine genau auf jeden Kunden personalisierte Fertigung bezahlt machen.“ Jetzt müsste nur noch das eigene Land als Kunde zurückkommen. Doch das ist eine andere Geschichte.