Für seine „Predigt auf den Untergang Roms“ hat Jérôme Ferrari den Prix Goncourt erhalten. In dem Roman macht er die Bar eines korsischen Bergdorfs zum Mittelpunkt der Welt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - In Zeichentrickfilmen ist es ein beliebter Effekt: jemand läuft am Rande einer Schlucht arglos weiter ins Nichts und stürzt erst dann, wenn er den gähnenden Abgrund unter sich gewahrt, ins Bodenlose. Dieser Moment des Aufschubs, in dem die eingespielten Abläufe so weitergehen wie bisher, auch wenn das, was sie trägt, längst nicht mehr besteht, ist die Signatur krisenhafter Zwischenzeiten. Und manchmal bedarf es einer donnernden Predigt, die Menschen aus ihrem bequemen Schlummer mit dem Schrecken der Erkenntnis zu wecken, dass die Welt ihrer alltäglichen Gewohnheiten und Gebräuche aufgehört hat zu existieren, dass unter ihnen nur der bodenlose Abgrund gähnt und dass es eines neuen Seinsgrundes bedarf.

 

Der französische Autor Jérôme Ferrari ist ein einzigartiger Chronist jener Phasen des Übergangs, wie wir selbst möglicherweise gerade eine durchleben. Sein Werk hat alles, uns aus dem Zustand routinierten Schlummers in den erhöhter Wachsamkeit zu überführen: den hohen Ton, die intime Vertrautheit mit den Niederungen und eine philosophische Bildung, die aus den engen Befangenheiten der eigenen Zeit hinausführt. Seine „Predigt auf den Untergang Roms“, so der Romantitel, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Und vielleicht liefert den kürzesten Begriff von der intellektuellen Atmosphäre dieses Buches das Gedankenspiel, sich den heiligen Augustinus und den Philosophen Leibniz in einer Bar am Ende der Zeiten vorzustellen, wie sie bei einem Drink mit ein paar Jenseitstouristen zusammenstehen, noch einmal einen Blick zurück werfen und bang darüber schwadronieren, auf was man sich nun gefasst machen müsste.

Urwüchsigkeitstristesse und touristische Invasionen

Manchmal nämlich ist der Mittelpunkt der Welt eine Bar, und Gedeih und Verderben hängt an dem, was hier zusammenkommt, sich vereinigt und entzweit. Der junge Philosophiestudent Matthieu übernimmt mit seinem Freund Libero irgendwo in den korsischen Bergen eine abgewirtschaftete Dorfkneipe, um sich nach dem Studium auf dem Festland wieder in seiner Herkunftswelt zu verwurzeln. Deren Lebensrhythmus ist bestimmt vom dunklen Puls dumpfer Urwüchsigkeitstristesse und den überdrehten Zyklen touristischer Invasionen. Und beides mischt und überlagert sich in dem zusehends florierenden Betrieb der zwei Freunde.

Nah an den alltäglichen Tatsachen ist dies der eine Teil der hier erzählten Geschichte: Gründung, Aufstieg und Niedergang einer gemeinsamen Unternehmung, mit allen komischen Banalitäten, Glücksversprechen und Übermütigkeiten vor der heroischen Kulisse Korsikas. Matthieu und Libero rekrutieren Kellnerinnen, handeln nach lebensklugen Maximen („vor allem dürft ihr nicht die Kellnerinnen ficken, klar?“) und schaffen etwas, was ihnen zeitweise als die beste aller möglichen Welten erscheint, dann jedoch entgleitet und sich am Ende gegen sie kehrt. Jérôme Ferrari gelingt das Kunststück, den Weltenbrand über ein gewöhnliches Wirtshausscharmützel anzufachen.

Nichts hat vor der Geschichte Bestand

Und das ist die andere Seite, denn jener Handlungsbogen ist um das Prinzip der Geschichte selbst geschlagen. Es ist ein tragisches Prinzip: auch wenn jedem Niedergang ein neuer Aufstieg folgt, bleibt die Erkenntnis, dass nichts Bestand hat. Hier öffnet sich die Perspektive vom kleinen Bar-Drama zum großen Welttheater. So wie in Korsika erhabene Bergszenerien und mediterrane Bukolik aneinandergrenzen, so zelebriert Ferrari, der auf der Mittelmeerinsel lange als Philosophielehrer gearbeitet hat, den Wechsel der Töne. Von syntaktischen Gipfellagen aus lässt er seinen Blick ins Weite schweifen: über die genealogische Wirrnis von Matthieus Familie, über die Abgründe an Hoffnungslosigkeit des verkommenen Eilands, über versunkene Reiche – das koloniale Frankreichs, das imperiale Roms.

Wie ein Gewitter fahren auf Verfall, Fäulnis und Auflösung Ferraris Sprachballungen nieder. Ein Frühlingsmorgen über geschichtsgetränktem Boden klingt dann so: „Die aufgrünende Erde hat sich den Magen vollgeschlagen mit in Fetzen gerissener Kleidung und in Fetzen gerissenem Fleisch, sie ist voller Kadaver und ruht in Gänze auf dem Gewölbe ihrer zerbrochenen Schultern, aber die Morgendämmerung hebt an, und im Strahl ihres Lichtes sind die vergessenen Kadaver nichts anderes mehr als der fruchtbare Humus der neuen Welt.“

Der Sündenfall philosophischer Barkeeper

Die Zeitlichkeit, die diesen Roman bestimmt, ist die Stunde der Barbaren. In kristalliner Klarheit enthüllt Ferrari die unmerklichen Zeichen ihrer Ankunft: Einst war es das „rechteckige Segel eines Schiffes, das vor den Küsten Hippo Regius’ über die blauen Wasser des Mittelmeers zieht“, um der Stadt, in der Augustinus über den Untergang Roms predigt, Tod und Verderben anzukündigen. Heute dürfte es der schwarze Rauch der Fähren sein, auf denen sich die von der Tourismusindustrie vorwärts gepeitschten Heere nähern, die Insel zu usurpieren.

Nach der spätantiken, sich mit dem frühen Christentum vereinigenden Lehre der Gnosis ist die Welt das Werk eines den Mächten der Finsternis zugehörigen Demiurgen. Ihre verworfene Materialität ist dem ideellen Licht der Erkenntnis entgegengesetzt. Beide Pole miteinander vermengt zu haben, Kommerz und Kontemplation, ist der Sündenfall der philosophischen Barkeeper. Doch an was sie scheitern, gelingt dem Schöpfer dieses Romans, der Dorfmoritat und Weltenpredigt zusammendenkt. Der Dualismus ist sein Bauprinzip. Und wahrlich, aus der enormen Fallhöhe, zu der er sich emporschraubt, stürzt man tief – aber kommt ganz gewiss klüger unten an.