Die junge und sehr erfolgreiche neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern tritt überraschend und unter Tränen zurück – weil ihr „Tank leer“ sei.

„Ich habe nichts mehr im Tank“, sagte Jacinda Ardern und reicht ihren Rücktritt ein. Es ist das schlichte Eingeständnis, ausgebrannt zu sein. In rund fünf Jahren als Premierministerin Neuseelands ist Ardern weltweit einige Male mit der Begabung aufgefallen, in Krisensituationen die passenden Worte zu finden. Etwa im März 2019, nachdem ein rassistischer Attentäter 51 Menschen in zwei Moscheen der Stadt Christchurch tötete und weitere 40 Menschen verletzte. Als 2020 die Coronapandemie begann, bat sie ihre Landsleute inständig, freundlich miteinander umzugehen und Nachbarn zu helfen, wenn diese in Not seien. Die Wählerinnen und Wähler dankten es ihr mit einer absoluten Mehrheit für Labour bei den folgenden Wahlen.

 

Die Krisen haben Spuren hinterlassen

Doch am Donnerstagmittag, bei der ersten Pressekonferenz des neuen Jahres, musste sich Ardern erneut erklären, diesmal in eigener Sache: Sie werde ihr Amt als Premierministerin aufgeben, sagte die 42-Jährige, weil sie ausgebrannt sei. Kritiker, die behaupten, Ardern lasse ihre Labour Party ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen im Stich, weil sie sich vor einer Wahlniederlage fürchte, sollten sich an ein paar schlichte Tatsachen erinnern, die ihren frühzeitigen Abtritt von der politischen Bühne als durchaus nachvollziehbar erscheinen lassen: Mit 37 Jahren avancierte Ardern 2017 zur jüngste Regierungschefin weltweit, ohne jemals zuvor Regierungsverantwortung übernommen zu haben. Darüber hinaus war die Neuseeländerin nach der früheren pakistanischen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto erst die zweite Regierungschefin, die im Amt schwanger wurde, ein Kind zur Welt brachte und die Pflichten einer Mutter übernahm.

Die Krisen, die Ardern im Amt bewältigen musste, haben indes Spuren hinterlassen: Zuerst das Massaker von Christchurch. Kurz darauf ein schwerer Vulkanausbruch, bei dem 22 Touristen den Tod fanden. Neuseelands Ruf als sicheres Tourismusziel war in Gefahr. Wenig später begann die Coronakrise, die Ardern mit ihrer von Labour angeführten Regierung nach Meinung von Virologen hervorragend meisterte, während die Pandemie für andere Staatslenker in einem Debakel endete. Nicht wenige Kritiker in Neuseeland meinen jedoch, Ardern habe ihr Land viel zu lange vom Rest der Welt abgeschottet und somit dem Tourismus immens geschadet.

2016 erklärte auch John Key, völlig überraschend, seinen Rücktritt

Für viele Wählerinnen und Wähler der Labour Party war die Ankündigung des Rücktritts dagegen ein Schockerlebnis – kurz nach dem Ende der Weihnachtsferien, die in Neuseeland bekanntlich in die Sommermonate fallen. Der Labour-Parteivorstand hat nun die schwierige Aufgabe, in den nächsten sieben Tagen einen neuen Vorsitzenden und Premierminister zu küren. Oder eine Nachfolgerin. Gelingt dies nicht, muss die Parteibasis einen neuen Vorstand wählen, was zu einer veritablen Regierungskrise führen könnte. Gelingt es Labour hingegen, sich mit großer Mehrheit auf einen neuen Chef oder eine neue Chefin zu einigen, prognostizieren Demoskopen der Partei gute Chancen auf den Machterhalt bei den Parlamentswahlen am 14. Oktober.

Größte Oppositionspartei ist die National Party mit dem Vorsitzenden Christopher Luxon. Neuseelands Nationalpartei ist nicht zuletzt deshalb auf den Oppositionsbänken gelandet, weil ihr über viele Jahre beliebter Parteichef und Premierminister John Key 2016 aus ganz ähnlichen Gründen wie Ardern zurücktrat. Wenige Tage vor Weihnachten 2016 erklärte auch John Key, völlig überraschend, seinen Rücktritt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der gelernte Investmentbanker Key den südpazifischen Inselstaat acht Jahre lang weitgehend skandalfrei regiert und war insbesondere in den eigenen Reihen überaus beliebt.

Sie hinterlässt ein ziemlich geordnetes Land

Wie Ardern heute schien auch Key völlig ausgebrannt zu sein, mit dem Unterschied, nicht weiter über die Hintergründe Auskunft geben zu wollen. Key war zu diesem Zeitpunkt immerhin 55 Jahre alt. Er gebe sein Amt freiwillig auf, sagte John Key damals, weil er „mehr Zeit mit der Familie verbringen“ wolle, ohnehin habe er sich selbst nie als „Karriere-Politiker“ gesehen. Indes, Keys Amtszeit war vergleichsweise ruhig: Es gab keinen Terroranschlag, keine Klimakrise, keine großflächigen Überschwemmungen mit zerstörter Infrastruktur wie heute, keine weltweite Pandemie. Trotzdem schmiss auch er ohne Vorankündigung hin.

Was Jacinda Ardern angeht, ist die Überraschung umso größer, weil sie auf der Basis schlichter Wirtschaftsdaten ein ziemlich geordnetes Land hinterlässt: Nach einem langen Corona-Lockdown wuchs die Volkswirtschaft zuletzt wieder, eine Rezession droht höchstens im Falle eines kräftigen, weltweiten Abschwungs. Neuseelands Arbeitslosigkeit ist gering, in den meisten Städten und Gemeinden werden Arbeitskräfte händeringend gesucht. In vielen Schaufenstern heißt es: „Wir stellen ein. Bitte bewerben Sie sich.“ Die Staatsverschuldung des Inselstaats im Südpazifik ist im internationalen Vergleich äußerst gering: Hier muss niemand nach einer Schuldengrenze rufen wie dies derzeit in den USA geschieht, eine Währungskrise wie in Europa mit teils hochverschuldeten Ländern gibt es in Neuseeland nicht. Zudem hat es Ardern nach fünfeinhalb Jahren im Amt geschafft, viele Obdachlose von der Straße zu holen und in sozialen Einrichtungen unterzubringen. Das war ein erklärtes Ziele der Premierministerin bei ihrem Antritt.

Man kann ihren frühzeitigen Rücktritt als weise Entscheidung ansehen

Die Beliebtheit von John Key, der die Amtsgeschäfte im Dezember 2016 seinem Vize Bill English überließ, fußte überwiegend auf guten Wirtschaftsdaten. Keys wirtschaftsliberales Programm ermöglichte asiatischen Investoren einen nahezu unbeschränkten Zugang zum neuseeländischen Immobilienmarkt. Wachstumsraten bis zu vier Prozent jährlich und ein starker Kiwi-Dollar folgten. Doch für sozial Schwache führte der Immobilienrausch nicht selten zu einem gesellschaftlichen Abstieg. Diesen Trend wollte Jacinda Ardern umkehren. Auch das ist ihr gelungen, wenn man es als Erfolg ansieht, dass die Immobilienpreise nun nicht mehr unaufhaltsam in die Höhe schnellen sondern seit dem vorigen Jahr beständig fallen.

Doch nun ist sie erschöpft, wie Ardern selbst sagt. Man kann ihren frühzeitigen Rücktritt als weise Entscheidung ansehen. Sie wisse genau, was sie sich zumuten könne, sagt Ardern. Sie habe erkannt, dass sie die große Verantwortung, die sie 2017 übernommen habe, nun nicht mehr tragen können. Ist ihre Nachfolge erst geklärt, will Ardern ihren langjährigen Partner, den TV-Moderator Clarke Gayford, heiraten. Und – nicht zuletzt – viel mehr mit ihrer vierjährigen Tochter Neve verbringen. Viele Neuseeländer meinen, dass sie sich das verdient hat.