Er fasziniert bis heute: Der Mythos um den Londoner Serienmörder, der vermeintlich wahllos seine Opfer ausschlachtete und bis heute nicht identifiziert wurde. Vor genau 130 Jahren schlug Jack the Ripper zum ersten Mal zu.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

London - In diesen Wochen jährt sich einer der rätselhaftesten Fälle der Kriminalgeschichte zum 130. Mal. Zwischen dem 31. August und dem 9. November 1888 wurden im Londoner Armenviertel Whitechapel fünf bestialische Morde begangen, die die Handschrift eines einzigen Täters trugen.

 

Am 27. September 1888 erhielten die Fahnder einen Brief. Sein Verfasser gab sich als der Mörder aus und nannte sich Jack the Ripper. Gefasst wurde der Täter nie, mehr als 100 Personen könnten es gewesen sein. Wir stellen neun der Verdächtigten vor.

Tatort Whitechapel

Kurz vor vier Uhr morgens am 31. August 1888 machte ein Kutscher im Londoner Stadtteil Whitechapel eine grausige Entdeckung. Die Leiche von Mary Ann Nichols lag in einer engen Gasse im Londoner Armenviertel Whitechapel auf dem Rücken mit durchschnittener Kehle, die Röcke hochgeschoben, mit aufgeschlitztem Bauch. Das erste Opfer des bekanntesten Serienmörders der Weltgeschichte, Jack the Ripper.

Wer im Armenviertel Whitechapel im Londoner East End überleben wollte, verdingte sich als Tagelöhner am Großmarkt oder Hafen oder als Gelegenheitsprostituierte. Die Gegend um Whitechapel und Spitalfields war verrufen als Einwanderungsviertel, in dem Deutsche, Hugenotten, Iren und jüdische Flüchtlinge vor osteuropäischen Pogromen seit Jahrhunderten eine erste Unterkunft fanden – oftmals in Armenhäusern mit Suppenküchen, die von der Heilsarmee unterhalten wurden.

Ein Labyrinth von engen Höfen und Gassen mit vielen Herbergen und kleinen Werkstätten, in dem Jack the Ripper unbehelligt morden konnte. Zwar gab es viele Verdächtige, doch bis heute wurden die fünf Morde nicht gelöst, die ihm sicher zugerechnet werden.

Ermordet und ausgeweidet

Innerhalb einer guten Woche nach dem ersten Mord wurde sein zweites Opfer entdeckt, Annie Chapman. Ein Teil ihrer Eingeweide war entfernt worden – eine erste Eskalation. Drei Wochen später dann zwei Morde in einer Nacht: Elizabeth Stride um ein Uhr nachts – dabei schien der Mörder überrascht worden zu sein – und 44 Minuten später Catherine Eddowes, deren linke Niere und Gebärmutter fehlten.

Am 10. November beendete der Killer seine Serie mit dem Mord an Mary Jane Kelly, die im Bett in einer schäbigen Unterkunft gefunden wurde, ein Teil ihrer Organe neben ihr auf einem Tisch.

Keine Spur führt zum Mörder

Die Polizei tappte im Dunkeln. Dabei war die „Arbeitsweise“ des unbekannten Mörders war klar: Die meisten seiner Opfer waren Ende 30 oder über 40, sie alle waren Prostuierte gewesen oder arbeiteten noch in dem Gewerbe. Der Täter tötete am Wochenende oder an Feiertagen, schnitt ihre Kehle durch und verstümmelte sie.

Möglicherweise hatten Passanten ihn einmal sogar zu Angesicht bekommen: Das vierte Opfer, Catherine Eddowes, wurde in Begleitung eines Mannes gesehen, noch zehn Minuten vor der Entdeckung der Leiche. In der Londoner Zeitung „Times“ beschrieb ein Zeuge ihn als „etwa 30 Jahre alt, 1,75 Meter groß, heller Teint, mit kleinem blondem Schnurrbart, rotem Halstuch und spitzer Mütze“.

Verdächtige gab es zur Genüge: Ex-Liebhaber, Kriminelle, Schlachter, Ärzte oder Hebammen wegen ihres anatomischen Wissens, Freimaurer, Einwanderer, Scharlatane und Anarchisten. Es half nichts – der Mörder wurde nie gefasst.

1. Aaron Kosminski: der DNA-Treffer

Aaron Kosminski (1865-1919) war ein polnischer Einwanderer, der im Londoner Armenviertel Whitechapel wohnte, wo die Morde verübt wurden. 2014 veröffentlichte der britische Autor Russell Edwards das Ergebnis einer Erbgut-Analyse, die Jari Louhelainen, Professor für Biochemie an der Universität von Liverpool, durchgeführt hatte. Demnach könnten die Sperma- und Blutspuren an einem Halstuch, das bei der ermordeten Prostituierten Catherine Eddowes gefunden wurde, von Kosminski stammen. Der polnische Jude hatte damals als Friseur in Whitechapel gearbeitet.

Viele Kritiker bezweifeln diese Theorie. Nach mehr als einem Jahrhundert sei es nicht möglich, auf einem alten Schal noch brauchbare DNA sicherzustellen, die sich eindeutig dem Täter zuordnen lasse.

2. Walter Sickert: der exzentrische Maler

Seit den 1970er Jahren rückte der deutschstämmige, als exzentrisch geltende Maler Walter Sickert (1860-1942) verstärkt in den Mittelpunkt. 2002 veröffentlichte die US-Krimiautorin Patricia Cornwell das Buch „Wer war Jack the Ripper? Porträt eines Killers“. Darin behauptet die Schöpferin der Romanfigur Kay Scarpetta (eine Gerichtsmedizinerin), dass Sickert für die Serienmorde verantwortlich war. Sie begründet es mit DNA-Vergleichen und Analysen seiner Bilder und Skizzen.

Diese Theorie wird von den meisten Experten abgelehnt.

3. Montague John Druitt: der Denunzierte

Der Name Montague John Druitt taucht 1894 in einem vertraulichen Bericht des Londoner Polizeichefs Melville Macnaghten als Verdächtiger auf – neben Aaron Kosminski und dem russischen Arzt und Ex-Sträfling Michael Ostrog. Druitt (1857-1888) war Anwalt und Lehrer. Er galt als homosexuell und beging wenige Wochen nach den Morden Suizid.

Sir Melville Macnaghten von Scotland Yard, der 1894 einen vertraulichen Bericht über die Ripper-Morde verfasste, schreibt über Druitt: „Er war sexuell gestört, und aufgrund einer geheimen Information zweifle ich zwar ein wenig daran, aber seine eigene Familie glaubt, dass er der Mörder war.“

4. George Chapman: der Barbier

Nach Meinung von Ripper-Fachleuten kommt George Chapman (1865-1903) am ehesten als Mörder in Frage. Er war als Severin Klosowski in Polen geboren, hatte eine Lehre als Heilgehilfe und Frisör gemacht und war 1887 nach London emigriert.

Zur Zeit der Morde arbeitete Chapman als Barbier in Whitechapel und kannte eines der Opfer. Anfang 1891 brach er plötzlich nach New York auf, nachdem ein Zeuge ihn aufgrund seines Aussehens als Ripper beschrieben hatte. 1893 kehrte er nach London zurück und beging in den folgenden Jahren drei Giftmorde, für die er 1903 gehängt wurde.

5. Prinz Albert Victor: der Blaublüter

Hätte Prinz Albert Victor (1864-1892) länger gelebt, wäre der älteste Sohn des späteren Königs Edward VII. selbst König geworden. Doch der anerkanntermaßen geistig minderbemittelte Blaublüter starb 1892 mit 28 Jahren. Albert Victor war ein eifriger Bordellbesucher und wurde deswegen zeitweise erpresst.

Zwar wurde schon nach den Ripper-Morden ein Mitglied der königlichen Familie verdächtigt, doch niemand kam auf die Idee, den Prinzen ins Visier zu nehmen. 1970 veröffentlichte der britische Chirurg Thomas Stowell geheimes Material, das belegen sollte, dass Albert Victor in die Ripper-Morde verwickelt oder sogar der Mörder war. Sehr wahrscheinlich war der Prinz aber zu den Tatzeiten gar nicht in London.

6. Lewis Carroll: der Dichter

1996 veröffentlichte der britische Autor Richard Wallace ein Buch über Jack the Ripper. Darin vertritt er die Theorie, dass der Autor von „Alice im Wunderland“, Lewis Carroll (1832-1898), zusammen mit seinem Freund, dem Universitätsgelehrten Thomas Vere Bayne, die Morde begangen habe. Wallace behauptete, dass Carroll in zwei seiner Bücher detaillierte Beschreibungen der Morde versteckt hätte.

Dieser Verdacht ist so abwegig, dass ihn niemand der Jack-the-Ripper-Experten wirklich ernst nimmt.

7. Joseph Carey Merrick: der Elefantenmensch

Einer der kuriosesten Tatverdächtigen ist Joseph Carey Merrick (1862-1890), der Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien als „Der Elefantenmensch“ traurige Berühmtheit erlangte. Merrick, der 1890 mit 28 Jahren starb und an einer genetischen Störung litt, die seinen Körper vollkommen entstellt hatte, trauten seine Zeitgenossen offenbar alles zu – sogar Morde.

Vielen Aussagen zufolge war Merrick so stark in seiner Bewegungsfähigkeit behindert, dass er in der rechten Hand nichts halten konnte.

8. William Gull: der Leibarzt der Königin

1871 wurde William Gull (1816-1890) zum Baron und zum Leibarzt Königin Victorias ernannt: Zuvor hatte er den Prinz von Wales vom Typhus geheilt. Schon das berühmte Medium Robert James Lee behauptete in den 1920er Jahren, vom „Ripper“ geträumt zu haben und seine Identität zu kennen. Es handele sich um einen „berühmten Arzt“ – zweifellos Gull.

Stephen Knight griff diese Theorie 1976 in seinem Buch auf. Darin behauptete er, dass Prinz Victor Albert ein uneheliches Kind mit dem „Ripper“-Opfer Mary Jane Kelly gezeugt habe. Der damalige britische Premierminister Robert Gascoyne-Cecil habe Gull, dem Polizeichef Sir Robert Anderson und John Netley, dem ehemaligen Kutscher des Prinzen, mit dem Mord beauftragt.

9. Mary Pearcey: die Ripperin

2006 untersuchten australische Wissenschaftler DNS-Proben, die den Rückseiten der nach den Morden bei der Polizei und den Zeitungen eingesandten Briefen entnommen wurden. Ihre Theorie: Der Täter war eine Frau. Schon der Londoner Polizeiinspektor Frederick Abberline verdächtigte Mary Pearcey (1866-1890), die kurz nach den Morden Jack the Rippers in ähnlicher Weise die Frau ihres Geliebten ermordete.

Der Ripper-Forscher John Morris vertrat 2012 die Theorie, dass die Waliserin Mary Elizabeth Ann Williams – Ehefrau des Hofarztes John Williams – die Morde aus Wut über ihre eigene Unfruchtbarkeit begangen habe. Morris‘ Begründung: Keines der Opfer wurde sexuell missbraucht. Zudem wurden in der Blutlache von Catherine Eddowes, dem vierten Opfer des Serienmörders, drei Knöpfe eines Damenstiefels gefunden.