Beim Jazzfestival Esslingen gastiert der Londoner Multiinstrumentalist Jacob Collier, der einen das Fliegen und ein ganz klein wenig das Fürchten lehrt.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Esslingen - Heimat, steht bei Franz Kafka, sei vor allem das alte Zimmer, das jeder in sich trage, und natürlich kann das keine Verheißung sein. Jeder muss mitnehmen, was er nicht loszuwerden vermag, und trägt unterschiedlich schwer daran; es sei denn, er empfindet das Gepäck nicht als Last. Das wiederum scheint bei Jacob Collier, 21 Jahre alt, Londoner und Musiker von Kindesbeinen an, der Fall zu sein. Er nimmt sein altes Zimmer, in dem er ein Instrument nach dem anderen erlernt und einen Klang nach dem nächsten ertüftelt hat, sogar mit auf Tournee, die ihn, wundersamerweise, nach Esslingen und zum Jazzfest in die Landesbühne geführt hat.

 

Pickepackevolles Theater, große Erwartungen. Und auf der Bühne ungefähr der Raum in London-Finchley, den Collier, ein Spargel in Pluderhosen, da wie hier wie überall anordnet: Fast magisch im Kreis verteilt, finden sich Flügel, Keyboards (darunter ein am Massachusetts Institute for Technology entwickelter Midi Harmonizer), Bässe, Gitarre und jede Menge Schlagwerk. In der Mitte, wo der musikalische Fluss entspringt, Jacob Collier: in seinem Element und inmitten aller möglichen Klanggeister, die sich, auf Knopfdruck, rufen lassen, ohne dass sie der Zauberlehrling (hierin gleichzeitig sein Meister) gar nicht wieder loswerden will. Dahinter ein, zwei, drei, viele Jacobs auf der Leinwand. Ist Collier erst einmal richtig in Schwung gekommen, weiß man manchmal nicht mehr, wo man zuerst hinhör(seh)en soll, was auch wieder bizarr ist: Höchste technische Ökonomie und Präzision münden in rokokohafte Opulenz. Mögliche Irritationen darüber beruhigt Collier gleich mit dem ersten, hochgekonnt gecoverten Stück von Stevie Wonder: „Don’t You Worry Bout A Thing“. Zurücklehnen indes will man sich deswegen nicht. Das intensiv mitgehende Esslinger Publikum bei den von Maximilian Merkle eigenwillig organisierten Jazztagen bringt den Abend auf der Stuhlkante zu.

Er knüpft an den Topos vom Wunderkind an

„In My Room“, wie Colliers im Juli erschienene und beim Auftritt fast komplett gespielte erste CD heißt, knüpft in der Form des Ein-Mann-Projekts, virtuos zwischen Jazz, Rock, Soul, Hip-Hop oszillierend, einerseits an den Topos vom Wunderkind an. Der wird gern verbreitet, wenn ein knapp Zwanzigjähriger auftaucht und eine Welt zu resümieren scheint, die er eigentlich, bei Lichte besehen, noch gar nicht richtig kennen kann. So kam, nur zum Beispiel, der junge Pat Metheny zum schon reiferen Gary Burton.

Nicht zufällig zählt Jacob Collier Metheny zu seinen zahleichen Patenonkeln (dazu Herbie Hancock, den Produzenten Quincy Jones und, nicht zuletzt, Eberhard Weber). Sie erkennen in Collier den Mann, der die Moderne (von Joe Zawinul und Stevie Wonder über James Blake und J Dilla, Burt Bacherach und D’Angelo) in digitale Formen überführen könnte, ohne den Bruch allzu schmerzhaft werden zu lassen. Und Collier ist, kein Zweifel, insofern eine Art Brücke, wie er Brian Wilsons (dessen Vorliebe für Burt Bacharach und George Gershwin er teilt) dunklen Text und visionären Klang von 1963 eben „In My Room“ elegant in eine neue Epoche hinüberrettet, als sei der Song eine Mozartsonate: aufzubewahren für alle Zeiten.

Auf der anderen Seite hat Colliers Konzept auch eine leicht bedenkliche Seite. Zwar schafft er es jederzeit, die Verbindung zum Publikum herzustellen, aber die Gefahr des Pirouetten überdrehenden Zirkuskünstlers ist auch immer da: Seine Vorliebe für Sext- und Quartsextakkorde beim Modulieren spricht Bände. Bisweilen verschwinden hinter den gesampelten und live verschnittenen Klängen das Harmoniegerüst und die Melodie. In solchen Momenten liegt der Schluss nahe, dass der Multiinstrumentalist Collier in den nächsten Jahren Partner brauchen könnte, die in seinem Haus nicht nur als Geister zu Besuch sind, sondern als lebende Korrektive und korrespondierende Partner. Dass er mit anderen Musikern umgehen kann, hat er als Gast bei der WDR-Big-Band bewiesen.

Vorerst konterkariert Collier die solipsistische Anlage des Abends mit einem überwältigenden Kommunikationswillen, der sogar den Saal zum Singen bringt. Und nein, man muss sich wohl doch nicht sorgen um dieses besondere Talent, das man, trotz allem, am liebsten an diesem altertümlichen Instrument namens Klavier sieht: Mit etwas Hall nur und seiner großen, dunklen Stimme singt er da von seinem Leben als Sohn, Freund und Mann: „In The Real Early Morning“. Man kann hören, wie aus einer Zelle ein Zimmer wird, ein Haus und Palast. Es wäre für alle, die Musik lieben, Raum in diesem Lied. Das ist schon sehr schön.