Die Jahn-Realschule in Bad Cannstatt hat auf die veränderte Schülerschaft reagiert – mit einem neuen Profil. Die Ideen dafür hat sich das Kollegium von Schulen in ganz Deutschland abgeguckt. Das Zauberwort heißt Entschleunigung.

Stuttgart - Montagmorgen, 7.45 Uhr, Jahn-Realschule Bad Cannstatt: im Klassenzimmer der 7c haben sich sechs Schüler eingefunden. Ein Mädel frühstückt. Der Klassenlehrer Florian Schirott schreibt im Klassenbuch. Weitere Schüler tröpfeln ein, Jungs klatschen sich ab. Manche kommen still herein, sagen nichts. Erst mal ankommen.

 

Der entspannte Wochenstart nennt sich Flex, dauert 15 Minuten und gehört zu einem neuen Lernkonzept. Das hat sich die Jahn-Realschule selber verordnet. Anlass war der Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung im Jahr 2012. „Da haben wir gemerkt, wir kriegen Kinder, die wir früher nicht gehabt hatten“, sagt Schulleiter Andreas Führinger-Cartier.

Kollegium der Jahn-Realschule hat „gemerkt, wir müssen uns verändern“

Die Jahn-Realschule ist kein Einzelfall. An anderen Realschulen sprechen die Lehrer und Schulleiter von „kaum leistbaren Anforderungen“, weil die Schülerklientel und die Rahmenbedingungen nicht mehr zusammenpassen. Weil zu wenig Lehrer mit übervollen Klassen und vielen Schülern zurechtkommen müssen, die der Realschule nicht gewachsen und nun frustriert oder aggressiv sind. Diese Heterogenität machte auch der Jahn-Realschule zu schaffen. „Wir haben gemerkt, dass wir uns verändern müssen“, sagt Svenja Fritzsche vom Schulleitungsteam. Also besuchten die Kollegen Preisträgerschulen in ganz Deutschland – und zimmerten ein eigenes Konzept.

8 Uhr: Der Pflichtunterricht der 7c beginnt mit einem Morgenkreis. Fast alle 30 Schüler sind da. Samed kommt um 8.02 Uhr. Zu spät. Und sein Zeugnis? Hat er vergessen. Schirott trägt das ein. „Ihr stellt euch heute gegenseitig eure Ziele vor.“ Auch das gehört zum neuen Konzept. „Was habt ihr euch vorgenommen? Wie wollt ihr es umsetzen? Wie gut klappt es?“ Eine Schülerin berichtet: „Ich soll mich selbst motivieren, wenn ich unmotiviert bin.“ Und gibt zu: „Bei mir hat’s gar nicht geklappt.“ Ziele und Erreichtes oder Nichterreichtes tragen alle Schüler in ihren „Jahnplaner“ ein. Die Klassenlehrer zeichnen das ab. Jede Klasse hat ein Klassenlehrerteam, bestehend aus zwei Lehrern. Drei Klassenlehrerteams bilden ein Jahrgangsteam. Mehr Lehrerstunden gebe es dafür nicht, sagt der Schulamtschef Thomas Schenk. Jede Schule könne im Rahmen des Bildungsplans und der Stundentafel aber ein eigenes Konzept erstellen. Schenk /räumt ein, die Jahn-Realschule setze ihr Profil konsequent um und habe „die Herausforderungen besonders gut gelöst“.

Fachunterricht findet in 70-Minuten-Blöcken statt

8.40 Uhr: Der Fachunterricht beginnt. Englisch, Mathe und Deutsch gibt es nur noch in 70-Minuten-Blöcken – und zwar zeitgleich in allen drei Parallelklassen. Das ermögliche die Aufteilung in Niveaustufen. Aber, so Führinger-Cartier: „Wir haben im Moment so wenig Schüler auf Hauptschulniveau, dass wir keine eigene Klasse für sie einrichten.“ In der 7c sind es gerade mal vier. 10.10 Uhr: Nach der großen Pause geht es mit der FAZ weiter, der fächerübergreifenden Arbeitszeit: 60 Minuten lang arbeiten die Schüler an ihrem Berufswahlportfolio. Jeder in seinem Tempo. Der Vorteil: das seien „nicht drei Niveaustufen, sondern 30 – da kann auch ein schwacher Schüler sehr erfolgreich sein“, so der Rektor. Jeder soll aus vielen Aufgaben drei wählen und in sechs FAZ-Stunden bearbeiten. Zeiteinteilung lernen, Eigenantrieb und Lernstruktur entwickeln. Manche Schüler fangen sofort konzentriert an zu arbeiten, andere sitzen rum. Annika hilft Amira beim Bommelbasteln – für die Lebensschnecke. „Ich bastel halt gern“, sagt Amira. Darf sie auch. Es geht um Selbstporträts. Auf Amiras Schnecke steht: „Ich bin nett, ich hab geile Haare, ich bin hilfsbereit.“ Über ihre Lehrer sagt sie: „Die haben ne Art, die uns Spaß macht – aber wir lernen auch was.“ Inzwischen ist Ruhe eingekehrt, jeder Schüler ist beschäftigt, manche tragen Kopfhörer, schreiben die Berufe ihrer Familie auf oder die Interviews mit Verkäufern in den Läden an der Marktstraße. Rhythmisierung, Projektunterricht und Lehrerteams sind wesentliche Säulen des Konzepts. „Wir versuchen, die Kinder von Klasse fünf bis zehn in einem Jahrgangsteam zu begleiten“, so Svenja Fritzsche. „Man wächst zusammen.“ Vieles entscheide man gemeinsam. Andreas Führinger-Cartier: „Wir haben überlegt, ob wir offene Ganztagsschule werden wollen.“ Doch das hätte die Rhythmisierung blockiert. „Wir machen unser eigenes Konzept und verzichten auf die Zuschüsse.“ Aber: „Wir haben das Ganze entschleunigt“, sagt der Schulleiter. Auch durch die offene Ankommphase. „Und wir legen Wert auf ein freundliches Miteinander.“ Die Rhythmisierung stärke dies. „Wir haben keinen Leerlauf, wo sich die Schüler die Köpfe einschlagen.“

Neues Konzept lockt interessierte Lehrer an

14.50 Uhr: Nach einer Stunde Mittagspause und 70 Minuten Fachunterricht ist der Regelunterricht vorbei. Die „Plus“-Phase beginnt: Fußball, Theater, Judo, Mountainbike. Die Lehrer bieten das in ihrer Freizeit an. Ein Pensionär betreut die Judo-AG. Manche Kinder bleiben auch danach noch gern in der Schule. Die letzten schickt der Rektor um 18.30 Uhr heim. Tagsüber dürfen Schüler für Projektaufgaben die Schule verlassen. „Wenn die nicht liefern, ist das fürs nächste Mal gestrichen“, sagt Konrektor Kai Gehrig. Er räumt ein: „Unser Konzept passt nicht zu jedem Schüler.“ So wenn Eltern von 7 bis 16 Uhr eine verlässliche Betreuung erwarteten. Den Lehrern verlangt das Konzept Zusatzarbeit ab. Aber: „Es ist gewinnbringend“, so Gehrig. Und es macht die Schule auch für Lehrer attraktiv. „Wir hatten drei Stellen ausgeschrieben – und die Qual der Wahl“, sagt der Rektor. Trotz fehlender Mensa und Raumenge.