Das Deutsche Chorfest in Stuttgart moblisierte rund 300 000 Menschen. Petra Heinze hat die besondere Atmosphäre der vier Tage im Mai aus drei Perspektiven erlebt.

Stuttgart - Es war das pralle Leben. Musik, Gesang, Freude. So haben hunderttausende Menschen das Deutsche Chorfest zwischen dem 26. und 29. Mai des ablaufenden Jahres erlebt. Eine Stadt war ganz Chor. War sie das wirklich? War es das Großereignis, das die Stadt und ihre Menschen bis heute prägt. Ähnlich dem Kirchentag des vorangegangen Jahres. „Ja“, sagt Petra Heinze, „das war es.“

 

Sie muss es wissen. Sie hat den Blick der anderen. Petra Heinze hat die dreifache Perspektive auf das Chorfestival. Sie hat als PR-Chefin das Geflüster hinter der Bühne erlebt. Sie stand bei den Mitmach-Chören gewissermaßen selbst im Rampenlicht. Und sie inhalierte als Stuttgarterin den ganz normalen Ausnahmezustand während dieser Tage auf den Plätzen und Wegen. Aber ganz gleich, von welcher Seite sie die Sache auch betrachtet - es ist und bleibt dieselbe Geschichte: „Es war ein enthemmendes Erlebnis.“

Und es hat die Menschen verändert. Zumindest den Zugang zum Gesang. Petra Heinze ist Kronzeugin. Sie selbst gehört zu denjenigen, die den Mund nur zum Essen und zum Sprechen aufgemacht haben. Singen? Nie und nimmer. Sie dachte wie viele andere: Kann ich nicht, will ich nicht, mag ich nicht. Aber dann kam der große Regen. Sie stand mit Tausenden anderen am Schlossplatz und grölte im Chor den Beatles-Hit „Twist and Shout“. „So was gab’s vorher noch nie“, sagt sie versonnen. Nicht bei ihr, nicht in Stuttgart.

Stuttgart gilt als Referenzprojekt

Moritz Puschke, der künstlerische Leiter des Deutschen Chorfestes und Geschäftsführer des Deutschen Chorverbandes , geht noch weiter: „Das Chorfest gilt in Fachkreisen als Referenzprojekt für alles andere, was jetzt kommt. Es ist ein Meilenstein innerhalb der Chorfeste.“ Puschke kann es nicht besser beschreiben. Viele vor ihm haben dieses Phänomen schon erlebt, ergründet hat es keiner. Die Hauptstadt des Fleißes und der Strebsamkeit erwacht regelmäßig zu Großveranstaltungen aus ihrem Dornröschenschlaf. Es sind fast schon legendäre Geschichten, die man sich erzählt. Etwa von der Begeisterung bei der Leichtathletik-WM 1993, der Fußball-WM 2006 oder dem Evangelischen Kirchentag 2015. Immer wieder verblüffen die Schwaben die Welt – und ein wenig sich selbst.

Als PR-Profi weiß Petra Heinze von einer weiteren Einzigartigkeit zu berichten: „Die Resonanz in der Medienlandschaft war überwältigend. Auch das gab’s vorher noch nie.“ Lokal, national, international. Das Chorfest war Thema von vielen Geschichten, die laut Heinze alle eine symbolische Überschrift hatten: „Das Chorfest hat die ganze Stadt gerockt.“ 770 unterschiedliche Medien hätten auf diese Weise über das Festival berichtet. Auch der Aufschlag in den sozialen Medien sei gewaltig gewesen. Die Facebook-Seite hatte in nur einer Woche über 9000 Aufrufe und fast 170 000 Tweets bei Twitter.

Warum das Singen in der Gemeinschaft den Geschmack so vieler Menschen getroffen hat? Die Erklärung von Petra Heinze leuchtet ein. „Singen im Chor wirkt gegen die um sich greifende Vereinzelung. Gegen dieses Übermaß an Individualität.“ Viele Werte und Errungenschaften seien im Laufe der Zeit auf der Strecke geblieben. Auch weil die Religion bei vielen Menschen keine Rolle mehr spielt. „Der Umstand der Gemeinschaft ist verloren gegangen“, stellt Heinze fest. Aber vielleicht nehme Stuttgart auch hier eine Sonderrolle ein, mutmaßt sie.

OB Kuhn: Wir sind Chorhauptstadt

In einem Punkt ist Stuttgart in jedem Fall einzigartig. Wenn der Präsident des Chorverbandes, Henning Scherf, oder Oberbürgermeister Fritz Kuhn in diesen tollen Tagen Stuttgart die „Deutsche Chorhauptstadt“ nannten, war das mehr als nur ein höflicher Euphemismus. Für Moritz Puschke und Petra Heinze ist es eine Tatsache. „Die Chor-Tradition ist in Stuttgart etwas besonderes. Das hat man beim Fest in der Spitze und in der Breite gesehen, gespürt und gehört“, sagt Heinze. Womöglich habe sich das auch auf die Teilnehmer und Bürger der Stadt übertragen. „Singen war in diesen vier Tagen der Ausdruck von Lebensfreude. Es war oft so etwas beiläufiges, dass es sich nahtlos ins Alltagsleben eingefügt hat“, sagt Petra Heinze. Manchmal denkt sie daher: „Warum kann nicht immer Chorfest sein? Wie könnte man diese Atmosphäre retten? Vielleicht müsste man eine Form finden, zum Beispiel einen wiederkehrenden Chortag.“ Und ganz oft denkt sie wie viele andere: Mensch, gebt uns dieses Chorfest zurück!