Eine Pokémon-Arena auf dem Friedhof sorgte im Sommer für Diskussionen. Ein Experte erklärt das Phänomen – und hat eine Vermutung, wie sich Kids in Zukunft von ihren Eltern abgrenzen.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Backnang - Pokémons auf dem Backnanger Stadtfriedhof – das geht gar nicht, sagten einige Erwachsene im Sommer. Die virtuellen Monster waren zwar nur beim Blick auf das Display von Smartphones zu sehen. Wie die Stadtverwaltung jetzt mitteilt, hat es vor einem halben Jahr in der realen Friedhofswelt auch gar keinen Ärger gegeben. Aber trotzdem hatten diese Pokémons für kurze Zeit die Gemüter bewegt. Das Pokémon-Go-Fieber war danach recht schnell wieder abgeklungen.

 

Wie tickt die Jugend? Warum starren fast alle jungen Leute in nahezu jeder freien Minute auf ihr Handy? Die Pokémons vom vergangenen Sommer sind ein guter Anlass, um solche Fragen zu stellen, und Thomas Meyer von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) ist ein Fachmann, der ein paar Antworten weiß. Meyer ist Sozialpädagoge und Soziologe. Seit dem Jahr 2010 leitet der 47-jährige Familienvater den Studiengang Kinder- und Jugendarbeit an der DHBW.

Die wahre und die virtuelle Realität haben sich verknüpft

Seine Kernthese ist die folgende: Jugendliche wollten sich immerzu abgrenzen von der Erwachsenenwelt, und in der virtuellen Welt seien diese Digital Natives den meisten Eltern und Lehrern weit voraus. Deshalb biete sich die exzessive Nutzung des Internets als Form der Rebellion geradezu an. Das Pokémon-Go-Fieber vom Sommer 2016 sei ganz besonders interessant, weil die „wahre und die virtuelle Realität“ sich verknüpft haben.

Warum aber waren die virtuellen Pokémons auf dem Backnanger Friedhof und andernorts im Land ganz schnell wieder out? Meyer sagt, er könne nur spekulieren: Gut möglich sei, dass sich auch viele Erwachsene – ausgerüstet mit ihrem Smartphone – auf die Suche nach den Monstern gemacht hätten. In diesem Fall wäre es vorbei gewesen mit dem Jugendprotest. Auch beim sozialen Netzwerk Facebook sei so ein Trend zu erkennen: Immer mehr Erwachsene machen mit, und immer mehr Jugendliche nutzen Facebook kaum mehr oder melden sich wieder ab.

Kaum mehr Möglichkeiten Erwachsene zu provozieren

Generell gebe es für Jugendliche kaum mehr Möglichkeiten, Erwachsene zu provozieren. Sie können sich die Haare lang wachsen lassen, abrasieren oder Punkfrisuren tragen – niemand regt sich darüber auf. Punk zum Beispiel ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Viele junge Leute täten jedoch alles, damit ihre Eltern mit dem Kopf schütteln: Sie hörten Volksmusik, trügen Dirndl und Lederhosen, tanzten zu Schlagern in der Disco – oder starrten ständig auf kleine technische Geräte, so Meyer. Er spricht auch von „der Renaissance des Spießertums“. Die Flucht vor den Erwachsenen sei vielen Jugendlichen wichtig. Vielleicht sei das auch ein Grund, weshalb Jugendhäuser, die von Erwachsenen betreut werden, nicht (mehr) sonderlich populär seien. Vielleicht, sagt Meyer, „belagern wir Jugendliche zu sehr“.

Virtuelle Räume für junge Leute immer wichtiger

Für die nächsten Jahre erwartet der Experte der DHBW, dass virtuelle Räume für junge Leute immer wichtiger werden könnten, nur zu betreten mit Spezialbrillen und mit Internetverbindung, um Spiele zu spielen, Partys zu feiern. „Das taugt zur Abgrenzung, wird eine Domäne der Jugend bleiben und die Mamas zum Kopfschütteln bringen.“ Jugendkultur, sagt Meyer, funktioniere nur, „wenn man sie nicht mit den Alten teilt“. Jugendliche wollten unbeaufsichtigt sein, deshalb werde die virtuelle Welt „ein wichtiger Rückzugsraum bleiben“ – zumindest vorerst.

Was aber wird wohl passieren, wenn die Pokémon-Go-Generation selbst Kinder hat? Wie werden sich diese Sprösslinge dann von ihren Eltern abzugrenzen versuchen? Eine spannende Frage, sagt Thomas Meyer. Es sei durchaus denkbar, dass es eines Tages eine Gegenbewegung geben könnte – nach dem Motto: Raus aus den virtuellen Welten!

Etwas Ähnliches habe schon mal stattgefunden: die Wandervogelbewegung um 1900. In einer Phase fortschreitender Industrialisierung der Städte, angeregt durch die Ideale der Romantik, versuchten sich viele Jugendliche damals von den engen Vorgaben des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds zu lösen. Sie lebten in freier Natur, entwickelten eine ureigene Lebensart – und protestierten auf diese Weise gegen die Erwachsenenwelt und deren Technikgläubigkeit.