Ein Polizist regelte vom Podest aus den Verkehr der Königstraße, der Marktplatz war ein Parkplatz, Studierende demonstrierten: Unser Stuttgart-Album lädt zur Zeitreise zurück in die 1960er Jahre ein.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Im Hochstand geht der Mann mit weißer Mütze seiner Arbeit nach, geschützt von einem Dächle, falls es regnen sollte. Autos und Straßenbahnen dominieren den Schlossplatz – Fußgänger müssen an der Seite bleiben. Wenn das Weihnachtsfest naht, danken viele Autofahrer mit kleinen Aufmerksamkeiten den Verkehrspolizisten. Mit Vorliebe legen sie Weinflaschen am Fuß des Podestes ab. Was in den 1960ern eine „Geste der Menschlichkeit“ war, sagt Michael Kühner vom Stuttgarter Polizeimuseum, würde heute den Staatsanwalt beschäftigen: „Er müsste der Frage nachgehen, ob es Vorteilsnahme nach § 331 StGB ist.“

 

Das Wort der 1960er Jahre lautet: „autogerecht“. In der Autostadt, die den wachsenden Wohlstand nicht zuletzt Mercedes und Porsche verdankt, fallen Entscheidungen im Gemeinderat zugunsten der Kraftfahrzeuge aus. Bis vors Rathaus dürfen Autos fahren. Der Marktplatz ist ein Parkplatz. Die Motorisierungswelle überflutet den Kessel. Von Feinstaub und Dieselbelastung spricht keiner. 1960 sind 107 000 Autos in Stuttgart registriert, heute sind es etwa dreimal so viel. Doch schon damals kommt es zu Staus.

Die „Kulturmeile“ wird auseinander gerissen

Am 2. Juli 1962 beginnt die Stadt damit, ihre City zu unterkellern. An diesem Tag bohrt sich am Charlottenplatz der erste Spaten fürs Tunnelnetz ins Erdreich. Es ist eine Operation am offenen Herzen – trotz der Großbaustelle sollte es auf den umliegenden Straßen nicht zum Verkehrsinfarkt kommen. Eine lärmende Stadtautobahn reißt seitdem die „Kulturmeile“ zwischen Theater und Staatsgalerie auseinander – auch jetzt noch, da die Dauerbaustellen in die geplagte Stadt zurückgekehrt sind.

Die großartigen Fotos aus den 1960ern, die im Internet-Forum unseres Stuttgart-Albums für sehr viele Klicks und Kommentare sorgen, stammen aus dem Film „Heimatbilder Stuttgart“, der an Karfreitag, 19 Uhr, im SWR-Fernsehen ausgestrahlt wird. Sechs Monate lang hat Anita Bindner an dem 45-minütigen Werk gearbeitet und dafür vor allem Schätze aus privaten Archiven verwendet. Es ist der dritte Stuttgart-Film aus dem Haus des Dokumentarfilms nach 2003 und 2010. Themen sind diesmal unter anderem: Kriegszerstörungen, Wiederaufbau, Demos, Hochzeiten, Achterbahnfahrt auf dem Wasen, Baden im Neckar, Baustellen und Schneisen für das, was man „autogerechte Stadt“ genannt hat. Amüsantes, Alltägliches und Kurioses kommen noch hinzu.

Polizei sperrt 1969 den Landtag mit Stacheldraht ab

Die 1960er sind das Jahrzehnt des Aufbruchs. Die Flower-Power-Bewegung sorgt für einen Gegensatz zum Bürgertum der 1950er. Miniröcke sind im Trend, das Fernsehen wird bunt. In Stuttgart wird 1960 das Kaufhaus Schocken abgerissen, was bis heute als Sünde des Städtebaus gilt. 1961 übernimmt John Cranko die Leitung des Stuttgarter Balletts – mit ihm kommt das Tanzwunder. Zur Bundesgartenschau 1961 wird der runde Theatersee vor der Oper zum Eckensee umgestaltet. Trabantensiedlungen wachen auf der grünen Wiese heran, etwa der Fasanenhof, Freiberg und Lauchau.

Gegen Ende der 1960er beginnt die Ära des Aufbegehrens. Ein Foto von Manfred Storck von 1969 erinnert daran. Eine Studentin reicht vor dem Landtag einem Polizisten über Stacheldraht hinweg ein Flugblatt. Zur Novelle des Hochschulgesetzes ist das Gebiet vor dem Landtag weiträumig abgesperrt. Den Stacheldraht bezeichnen die Demonstranten als „neue Schandmauer durch Deutschland“. Auf Plakaten werden Passanten gewarnt: „Sie verlassen den freien Teil der Stadt.“

Studierende der Staatlichen Musikhochschule singen Choräle, deren Texte sie umgedichtet haben. Lieder wie „Landtag, befiehl Du unsere Wege“ und „Großer Hahn, wir loben Dich“ erklangen immer wieder. Der Kultusminister hieß damals Wilhelm Hahn.

Diskutieren Sie mit: www.facebook.com/Album.Stuttgart. Zu unserer Serie sind drei Bücher erschienen.