Das Pokern war nervenzehrend. Die Parteien, die in Berlin seit Wochen über eine Jamaika-Koalition verhandeln, rangen fast bis zum Morgengrauen. Dann vertagten sie sich doch. Zu weit lag man auseinander.

Berlin - Nach 18 Stunden ist sie zu Ende, die Nacht, die eine Entscheidung im Ringen um ein Bündnis von CDU, CSU, FDP und Grünen erzwingen sollte. Aber entschieden ist noch immer nichts. Gegen 4 Uhr morgens dringen die ersten Meldungen aus dem Dunstkreis der Verhandler. 18 Stunden Ringen im großen, kleinen und kleinsten Kreis. Und noch immer kein Ergebnis. Jamaika ist weit an diesem tristen Spätherbstmorgen. Vertagt hat man sich, neuer Termin, acht Stunden später, Freitag, 12 Uhr, diesmal im Konrad-Adenauer-Haus, dem Kraftzentrum der Christdemokratie. Notfalls will man auch am Samstag noch einmal ran. Wieder auf Los, wieder am Anfang, ratlos wie eh und je. Finster ist die Nacht, finster sind die Mienen mancher Unterhändler, die in die Dunkelheit zu den Limousinen huschen. Das mag daran liegen, dass sie, nach allem was man hört, in dieser Nacht mehrfach in den Abgrund des Scheiterns geblickt haben. Vielleicht ist es aber auch nur der Umstand, dass an Schlaf trotz der zurückliegenden halben Ewigkeit kaum zu denken ist.

 

Christian Lindner ist der erste, der um 4 Uhr 30 morgens in die nasse Kälte vor das massigen Holzportal der Parlamentarischen Gesellschaft tritt, des geschichtsträchtigen Verhandlungsortes gegenüber des Reichstagsgebäudes. Optimismus will er dort vor den Kameras ausstrahlen, Gelassenheit, den ungebrochenen Willen, Verantwortung zu übernehmen. Ihm ist, wie allen anderen auch, eines klar: Sollte die Sache scheitern, muss der Schwarze Peter bei einem anderen landen. Verhaltene Zuversicht ist seinen Worten deshalb zu vernehmen. Es sei ja nun auch nicht alles vergebens gewesen. Bei Bildungsfragen sei man sich näher gekommen, bei der Herausforderung der Digitalisierung, in der Europapolitik. Von Jamaika als einem „historischen Projekt“ spricht er, der lange Zeit so skeptisch über dieses Bündnis sprach. Die Hürden seien überwindbar. So was dürfe nicht „an ein paar Stunden scheitern“. Sätze, die darauf angelegt sind, die Fallhöhe für jene zu erhöhen, die es womöglich aufs Scheitern ankommen lassen. Freie Demokraten seien selbstredend „nach wie vor daran interessiert, dass Deutschland eine stabile Regierung bekommt.“ Fragt sich bloß, wie?

FDP-Mann Kubicki ist „extrem frustriert“

„Wir sehen uns wieder, da bin ich sicher“, ruft Lindner den Journalisten vor seinem Abgang zu und man weiß in diesem Moment nicht so recht, ob man dies als Drohung oder Verheißung verstehen soll. Parteivize Wolfgang Kubicki, der schon am Vortag orakelt hatte, es ziehe „ein Sturm auf über Jamaika“, zeigt sich im Abgang weit weniger geschmeidig. „Das frustriert mich extrem“, raunzt das Nordlicht. Jetzt duschen, meint er. Und dann ab ins Fernsehen. Wenig später erscheint Armin Laschet, Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, weit weniger zuversichtlich als Lindner, mit den Grünen im Kohlestreit verhakt. Man müsse „jede Chance zur Einigung nutzen“, sagt er. Dies sei eine „staatspolitische Aufgabe“. Was man halt sagt in so einem Moment, in dem einen die Erkenntnis zermürbt, dass das rettende Ufer weit und die eigene Kraft endlich ist. CDU-Generalsekretär Peter Tauber versucht sich immerhin an einem kleinen Scherz, dem allerdings etwas der Glanz des originellen fehlt: „Wenn’s einfach ist, könnt’s jeder.“

Je länger die Nacht, desto länger wurden zuvor die Gesichter. Jamaika war ja ohnehin von Anbeginn eine zähe Angelegenheit und auch wenn die Verhandler zu Beginn noch auf dem Balkon des Reichstagspräsidentenpalais sich in Gute-Laune-Posen übten, so gab es keinen Anfang, dem irgendein Zauber innegewohnt hätte. Und so mündet dieser schwarz-gelb-grüne Hickhack in dieser vermeintlichen Nacht der Entscheidung in der nächsten Endlosschleife. Und das, obwohl ja das Palaver schon über vier Wochen andauert und ja eigentlich genau genommen nichts weiter zum Ziel hat, als Verhandlungen über die Aufnahme von Verhandlungen zu führen.

Merkel verlässt Verhandlungen wortlos

Kanzlerin Angela Merkel, die wortlos die Verhandlungen verlässt, hatte die Nacht auf Freitag eigentlich als Zielmarke benannt. Eine der wenigen konkreten Ansagen, die von ihr zu vernehmen gewesen waren. Eine Situation, eigentlich wie gemalt für eine wie sie, die Schlafräuberin, die geübt ist, Verhandlungsnächte erst mit dem Morgengrauen erfolgreich enden zu lassen. Aber schon als dieser Gewaltmarsch am Donnerstagvormittag begann, wirkte es so, als trügen jene, die da an den Start gingen, nicht etwa leichte Wettkampfkleidung, sondern einen Rucksack mit zentnerweise Marschgepäck. Eigentlich sollte ja, so war es vor Urzeiten gedacht, an diesem Abend nur noch ein schlankes Handout verhandelt werden. Ein Papier, vielleicht ein, zwei Seiten lang, das dann die Grünen ihrem Parteitag am 25. November präsentieren können, um damit ihren Delegierten die Erlaubnis zu Kolitionsverhandlungen abzuringen.

61 Seiten lang ist das Werk schließlich geworden, das aus den Untergruppen die Chefs erreichte. Ein eng bedrucktes Konvolut von Spiegelstrichen, länger als so mancher Koalitionsvertrag. Strittige Passagen sind, so ist es üblich, in eckige Klammern gesetzt. In manchen Bereichen ist zu Beginn noch immer nahezu alles mit diesen Streitklammern markiert, Flucht und Einwanderung zum Beispiel. Oder auch Energie und Verkehr. Eigentlich nicht zu schaffen, knurrte einer der Unterhändler bereits Stunden vor Abbruch der Verhandlungen.

Manchen seien interne Machtkämpfe bei den Parteien

Hin und wieder ließen sich Mitglieder der Arbeitsgruppen im Jakob-Kaiser-Haus blicken, das an den Verhandlungsort anschließt und das den Journalisten als Raststätte diente. Diese Unterhändler sollten bereit stehen, falls deren fachliche Expertise im Kreis der Verhandlungsführer gewünscht war. Gezeichnet und übellaunig waren sie alle nach den zermürbenden Tag- und Nachtsitzungen der vergangenen Tage, die letztlich ja doch kaum Fortschritt gebracht hatten. Immer wieder seien Positionen, auf die man sich eigentlich geeinigt hatte, wieder geräumt worden. Und das nicht nur bei den entscheidenden Knackpunkten Migration, Energie und Finanzen. Ob Einsatz von Pflanzenschutzmitteln oder Auslandseinstätze, immer wieder sprang die Ampel in den Fachgruppen erst auf Grün und dann doch wieder auf Rot. Manche deuteten dies als Zeichen interner Machtkämpfe, vor allem bei Grünen und CSU.

Es war deshalb, da sind sich alle einig gewesen, Zeit, dass die Chefs die Sache in die Hand nehmen. Aber wer ist in der CSU derzeit eigentlich Chef, so fragen sich viele. Noch Horst Seehofer, oder schon Markus Söder, der emsig dessen Absetzung betreibt. Und wer hat eigentlich bei den Grünen das Sagen? Was gilt deren Handschlag? All diese Fragen sind nach dieser Nacht offener denn je und doch ist es so, jedenfalls hört man das aus Verhandlungskreisen, dass man wohl einer Einigung einen beachtlichen Schritt näher gekommen sei. Nicht etwa, weil bei den besonders strittigen Fragen irgendetwas erreicht worden wäre. Sondern weil mit jedem Verhandlungstag der Schaden größer werde, den die Verhandlungspartner fürchten müssten, wenn am Ende doch noch alles scheitert.

Auswege aus dem Labyrinth erscheinen unklar

Aber wie man aus diesem Labyrinth herausfindet, ist keinem klar. Bei Kohle könnte man sich wohl einigen, da hat Merkel persönlich einen Vorschlag gemacht, verbunden mit der Ansage, jetzt sei mal Schluss mit Detailarbeit, jetzt werde Politik gemacht. Ein Signal, das ein Unterhändler zwischenzeitlich als hoffnungsvollen Auftakt begriff, dass man nun endlich wie Erwachsene miteinander reden werde und nicht weiter „Sandkastenspielchen“ austrage. Aber dann verhakte es sich, wie zu befürchten war, beim Thema Zuwanderung. Auch Vier-Augen-Gespräche Seehofers mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU), dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und dem hessischen CDU-Regierungschef Volker Bouffier brachten keine erkennbare Annäherung.

Jedes vertrauliche Gespräch mit Entsandten der CSU-Delegation fühlte sich an wie ein frostiger Plausch in der Eiskammer. „Bei Migration gibt es bei uns keinen Spielraum – Null“, war wieder uns wieder zu hören. Beim Familiennachzug einer bestimmten Flüchtlingsgruppe, der für die Grünen Bedingung ist, sei mit den Christsozialen nichts zu machen. Es stehe deshalb „Spitz auf Knopf“. So sah das auch Claudia Roth, die sich zwischenzeitlich bei den wegelagernden Journalisten blicken ließ, in der Hand eine weiße Rose, die sie bei den tristen Verhandlungen erfreuen sollte. Es gebe keinerlei Bewegung bei der CSU, sagte sie. Und dann fügte den schlüssigen Satz an: „Wenn eine Seite sagt, sie verhandle nicht, dann ist das das Ende der Verhandlungen“. So weit kam es nicht – vorerst. Und ihren Humor hat die muntere Bayerin Claudia Roth auch noch nicht ganz verloren - es sei „nicht blöd, dass ich die Zahnbürste mitgebracht habe.“