Mit 29 Jahren dreht Jan-Lennard Struff plötzlich groß auf – das freut auch seinen Trainingspartner Alexander Zverev: „Er ist ein geiler Spieler.“

Paris - In den ersten Grand-Slam-Tagen von Paris war Jan-Lennard Struff so frei, über seine alten Probleme zu sprechen. Es sei immer schwer gewesen für ihn, „mal so richtig aus sich rauszukommen“, er habe sich bemüht, das „innere Feuer“ zu entfachen. Aber er sei eben oft „ein bisschen“ gescheitert an sich selbst – an dem, was auch Fans, Freunde und Kollegen sahen bei dem etwas zerbrechlichen Riesen aus Ostwestfalen: das Phlegma, das etwas stoische Naturell. Struff verlor auch deshalb viele Spiele, die er nicht hätte verlieren sollen. Er machte das Mögliche oft unmöglich. Und nicht umgekehrt.

 

Wer ihn nun am ersten Turnierwochenende der French Open erlebte, draußen auf Platz 14 von Roland Garros, bei seinem ersten Grand-Slam-Achtelfinaleinzug überhaupt, konnte ihn kaum wiedererkennen. So wie einen Schulkameraden, an dem man beim Klassentreffen nach vielen Jahren vorbeiläuft, weil er in jeder Beziehung nicht mehr der Alte ist. Struff hat ein anderes, neues Auftreten – der 29-jährige Struff ist der beste Struff, den es je gab. Charakterlich gereift, vielseitiger, präsenter, emotionaler, mitreißender als Spieler, noch dazu ausgeglichener und glücklicher als frischgebackener Vater eines zwei Monate alten Sohns. Struff wirkt gerade wie einer, der mit sich im Reinen ist und sich eine ganz neue Tenniswelt erschlossen hat. „Ich glaube an mich, mehr als je zuvor“, sagt er.

Der beste Struff aller Zeiten

„Er hat eine neue Stufe in seiner Karriere erklommen“, befand Boris Becker nach Struffs triumphalem 4:6, 6:1, 4:6, 7:6 (7:1), 11:9 gegen den Kroaten Borna Coric im Tollhaus der French Open. Nächster Gegner Struffs: ein gewisser Novak Djokovic, die Nummer eins der Welt. Doch in Ehrfurcht zu erstarren vor den Platzhirschen der Szene ist Struffs Sache längst nicht mehr: „Wenn ich rausgehen würde, um nur ein ordentliches Spiel zu machen, hätte ich hier nichts zu suchen. Ich will gewinnen. Und ich sehe auch eine Chance.“

Struff, der Gigant mit dem mächtigen Aufschlag, war in der Branche ja immer als leicht drolliger Zeitgenosse verschrieen. Ein netter, lieber Kerl. Ein guter Kumpel, sehr verlässlich und mit trockenem Humor. Wenn er sprach, meinte man den Paderborner Kabarettisten Rüdiger Hoffmann zu hören: „Ja, hallo erst mal.“ Aber mit der Gemütlichkeit und Freundlichkeit ist es nun vorbei, jedenfalls auf dem Tenniscourt. Dort, an seinem Arbeitsplatz, zeigt Struff Biss. Beweist Mut und Mumm. Wenn es heiß und brenzlig wird in den Matches, bei den Big Points, zieht Struff nicht zurück. Sondern erhöht das Risiko.

So wurde er auch zum Schrecken der Favoriten, in den vergangenen, ganz starken Monaten dieser Saison 2019. Und nun auch in Paris – beim Match gegen Coric, den ambitionierten, jungen Kroaten. Vier Stunden und 22 Minuten ackerte und rackerte Struff, holte immer wieder Rückstände auf, machte zwei Breaks im letzten Akt des Krimis wett. Es sei eine „Mörderstrapaze“ gewesen, sagte er hinterher. Aber es war auch eine bestandene Reifeprüfung. Ein Match, typisch für den neuen, den besseren, den besten Struff. Den Struff, der sich auf seine Baseballkappe den Slogan „Never quit“ hat aufdrucken lassen – niemals aufgeben.

Kumpel von Zverev

In der ersten Turnierwoche trainierten Struff und sein prominenter Landsmann Alexander Zverev regelmäßig miteinander, die beiden Daviscup-Kollegen aus unterschiedlichen Welten. Die Riesen verstehen sich gut, „der Sascha ist ein netter Kerl“, bemerkte Struff lapidar, der werde „oft verkannt“. Erstmals bewegen sie sich sportlich auf Augenhöhe, als gemeinsame Achtelfinalisten. Zverev, Sieger in einer 6:4-6:2-4:6-1:6-6:2-Achterbahnfahrt gegen den Serben Dusan Lajovic, freute sich demonstrativ mit Struff, er riss in seiner Pressekonferenz die Arme hoch, als er von Struffs Coup erfuhr. „Er hat sich das mehr als verdient, er ist ein geiler Spieler. Viele wissen das leider gar nicht“, sagte Zverev, der nun gegen den Italiener Fabio Fognini gefordert ist, „und ich kenne niemanden, der Struffi das nicht gönnt.“

Im Live-Ranking rückte Struff nach seinem Einzug in die Runde der letzten 16 erstmals unter die Top 40 der Welt vor, auf Platz 38. Mehr soll noch kommen, mit seinen 29 Jahren beginnt er ja gerade erst, seine Potenziale so richtig auszuschöpfen. „Ich glaube, ich habe das Beste noch vor mir“, sagt Struff. Gerade auf Rasen hat der Warsteiner noch Reserven, der Mann, der seine Aufschläge mit über 200 km/h ins Feld trommelt. Doch noch gehen die Rutschübungen im roten Sand weiter, nun auf ganz großer Grand-Slam-Bühne gegen den scheinbar unangreifbaren Djokovic. „Es wird ein großer Tag“, sagt Struff. Womöglich sogar sein größter.