Die Katastrophe in Japan zeigt die Grenzen des menschlichen Verstandes. Ein Kommentar von Julia Schröder.

Tokyo - Wer am Freitag ahnungslos seinen Fernseher anschaltete, hätte die Bilder für Ausschnitte aus einem Katastrophenfilm halten können. In einer schier endlosen Schleife war es zu sehen: breite Wellenwände, die auf Strände zurollen, Massen von Wasser und Schlamm, die scheinbar gemächlich ganze Landstriche überschwemmen und alles mit sich reißen, was ihnen in die Quere kommt, Trümmer, Schiffe, Häuser. Flammenmeere über Städten und Industrieanlagen, brechende Dämme, berstende Bauten, knickende Masten. Und die Menschen - panisch sich bergend, während die Wände wackeln und die Decken herunterstürzen, fassungslos angesichts der unglaublichen Tatsache, fürs Erste überlebt zu haben, stoisch wartend an Bahnhöfen, wo einstweilen kein Zug mehr fährt. Dazwischen Experten, die erklären, die Atomkraftwerke seien sicher, Evakuierungen aber trotzdem nötig.

 

Die Livebilder von der Wirklichkeit in Japan erinnerten die einen an die popcorntauglichen Endzeitvisionen eines Roland Emmerich, die lustvoll zelebrieren, wie die Natur dem Menschen seine Nichtigkeit zeigt, die anderen an ältere Vorstellungen von der Apokalypse, in der Gott seine Wahrheit offenbart. Selten ist eine große Katastrophe so vollständig und in Echtzeit von den Medien transportiert worden.

"Tsunami" ist ein japanisches Wort. Das große Beben und das große Wasser, die am Freitag über die japanische Inselwelt hereingebrochen sind, treffen eine Nation, die wie kaum eine andere Umgang mit ihren kollektiven Ängsten pflegt. Es war nicht zufällig Japan, wo Godzilla, das enorme, zerstörerische Mutantenmonster aus dem Meer, erstmals erweckt wurde, hier wurde dieser Inbegriff des modernen Mythos von der Zivilisation, die ihren Untergang selbst hervorbringt, durch eine Serie von annähernd dreißig Filmen geschickt.

Die Ängste bannen

Godzilla, so geht die Geschichte, ist die Ausgeburt der atomaren Hölle, durch die das Land im Zweiten Weltkrieg gegangen ist. Godzilla ist zugleich das Sinnbild dieses nationalen Traumas, für das die Städtenamen Hiroschima und Nagasaki stehen. In den cineastischen Albträumen geht es nicht zuletzt darum, die Ängste zu bannen - so, wie der Künstler Hokusai schon 1830 die eigentlich unbeherrschbare Naturgewalt der "Großen Welle vor Kanagawa" in der Form seines Holzschnitts, des vielleicht berühmtesten japanischen Kunstwerks überhaupt, gebändigt hat.

Parallel dazu scheint das japanische Gemeinwesen auf die Abwehr innerer und äußerer Gefahren angelegt. Dem westlichen Betrachter fällt die herrschende Disziplin auf, die es erst ermöglicht, dass in den Metropolen so viele Menschen auf so engem Raum erfolgreich und einigermaßen erträglich arbeiten, der Drill, der dazu führt, dass selbst für Trinkgelage eine strenge Etikette gilt, aber auch die Verfeinerung in vielen Lebensbereichen. Nun hat Japan alles getan, auch die Folgen der Plattentektonik, die in der Tiefe wirkt, möglichst zu zügeln. Den immer wieder das Land verheerenden Beben werden seit Jahrzehnten das Bemühen um Erdbebensicherheit von Wohnhäuser, Bürobauten und Industrieanlagen und ein als vorbildlich geltendes Tsunami-Warnsystem entgegengesetzt.

Dass dies aber nur in einem bestimmten Maß möglich ist, haben die Ereignisse dieses 11. März 2011 wieder einmal und schlimmer als je zuvor gezeigt. Der Mensch kann versuchen, die Mächte der Natur so zu bannen, wie er es mit seinen Ängsten versucht. Aber er muss mit dem Scheitern dieses Versuchs leben. Hunderte sind gestorben, vielleicht Tausende, und noch ist nicht abzusehen, wie die ökologische und die ökonomischer Bilanz dieser Katastrophe ausfallen wird. Im Fernsehen oder im Internetvideo sehen die Bilder aus Japan vielleicht aus wie Ausschnitte aus einem Spielfilm. Für die Menschen in Japan aber geht der Albtraum weiter.