Die Jazztage im Stuttgarter Theaterhaus haben gezeigt: Europa ist kreativ und weitgehend einig – zumindest musikalisch.

Stuttgart - „Jeden Tag über 1000 Besucher, das ist ein tolles Kompliment“, sagt am Sonntag der Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier vor voller Halle T1. „Wir spielen ja reinen Jazz“, fügt er an, wohl wissend, dass das nicht viele tun. Und er hat diesmal noch mehr als sonst ins Programm investiert.

 

Wer im Haifischbecken der New Yorker Jazzszene bestehen möchte, muss außergewöhnliche Qualität mitbringen – so wie die sieben Musiker des European New York Jazz Collective. Nach einer Idee Schretzmeiers und unter der Ägide des vielseitigen Geigers Gregor Hübner, 50, kann das Publikum das allererste Konzert dieses Ensembles als Theaterhaus-Produktion erleben – und reagiert hellauf begeistert. Denn dieser Großstadtjazz in ungewöhnlicher Besetzung vibriert und pulsiert, atmet gelassen, zeigt sich einfallsreich und vielschichtig, steckt voller Überraschungen und groovt tierisch. Durch stilistischen Reichtum und seltene Reinheit tut sich dabei besonders der Vokalist Theo Bleckmann hervor, laut dem Jazz-Magazin Downbeat „ein wahnsinniges Genie“.

Zu Herzen geht der Auftritt einer lebenden Legende: Lee Konitz ist ein Jahr älter als John Coltrane, gleich alt wie Stan Getz und sieben Jahre jünger als Charlie Parker. Der Mann hat sie alle überlebt. Nun sitzt er auf der Bühne wie ein Daddy Cool und spielt auf einem goldlackierten Altsaxofon. Der Ton des 90-Jährigen ist mitnichten brüchig, sondern erfreulich rund und warm, Gelassenheit und Zärtlichkeit schwingen in ihm mit. Die Spannungsbögen sind natürlich kleiner geworden. Konitz lässt sich vom einfühlsamen Pianisten Florian Weber beflügeln und von einer feinen Rhythmusgruppe unterstützen. Bei „Body and Soul“ mögen die körperlichen Kräfte allmählich schwinden, Konitz‘ Spiel ist und bleibt beseelt. Und wenn er nicht spielt, singt er mit kleiner Stimme ohne Mikrofon. Rührend. Die Menschen im Großen Saal spüren: Sie haben ein unvergessliches Konzert erlebt. (stai)

Unerhörtes aus Japan

Die Jazztage bieten eine Bühne vor allem auch für den deutschen Jazz. Die Brüder Julian und Roman Wasserfuhr etwa beweisen einen starken Sinn für Geschmack, vom lebendig sich entfaltenden Gegenwartsjazz ihres Quintetts bis hin zu perfekt sitzenden Anzügen auf der Höhe der Zeit.

Aus der Stuttgarter Szene zeigt sich der Landesjazzpreisträger Sebastian Schuster mit seinem Südafrika-Projekt Seba Kaapstad, der Schlagzeuger Daniel Kartmann, der seit vielen Jahren den Club Kiste bespielt, präsentiert gar einen Überblick über seine Projekte: Das avantgardistische Nikotrio mit dem Pianisten Nicolas Schulze, das Improvisationsprojekt Portosol mit dem auf Effekt-Wabern setzenden E-Gitarristen Daniel Vujanic, die Spoken-Word-Gruppe Tuyala um die stimmstarke Sängerin Lisa Tuyala, Suedheim mit dem Stuttgart-Lyriker Matthias Bach am Mikrofon. Einer sticht dabei neben Kartmann immer wieder heraus: Der wunderbar in den Harmonien aufgehende Holzbläser Ekkehard Rössle.

Saiten- und Zungekunst

Eine wundersame Erfahrung bietet Eric Schaefer mit seinem Projekt Kyoto Mon Amour. Der Japan- und Zen-Erkunder, seit 2002 mit dem Pianisten Michael Wollny verbandelt, bildet mit dem Bassisten John Eckhardt eine strukturiert brodelnde deutsche Rhyhthmusgruppe. Dazu ringt der ausdrucksstarke Klarinettist Kazutoki Umezu seinem Instrument unerhörte Laute ab, die bei der Koto-Spielerin Naoko Kikuchi das liegende Saiteninstrument selbst vorgibt. Unter ihren Finger entfalten die flirrenden Klänge einen hypnotischen Sog – unwiderstehlich, wie sie etwa in „Ticket to Osaka“ die Saiten reißt, schlägt und streichelt.

Der totale Kontrast: In sich versunken verschachtelt der armenische Pianovirtuose beim Solo-Konzert kantige Motive, und der Fluss seiner Noten beeindruckt. Auf Dauer aber wirkt seine moll-lastige Präzision verkopft, Groove im Jazz-Sinne ist ihm fremd – eher verschmilzt hier Klassik mit Eigenarten der armenischen Musiktradition. (ha)

Zur Wahrheit gehört, dass Jazz auch unterhaltsam und sogar populär sein kann. Nils Landgren zum Beispiel lässt es am Samstag richtig krachen mit seiner Funk Unit. Der Schwede mit der roten Posaune ist ein musikalischer Tausendsassa, und er bringt einen Saal mit achthundert Leuten zum Tanzen und Mitsingen. Der Funk-Funke hat wieder einmal gezündet, auch beim 25-Jahr-Band-Jubiläum. (stai)

Die Französin Camille Bertault ist ein Youtube-Star, nun zeigt sie auf der Bühne im Minikleidchen Varieté- und Chanson-Qualitäten. Live unterlegt sie ihren berühmten Mitsing-Scat auf John Coltranes „Giant Steps“ mit französischem Text – und es ist ein Wunder, dass sich ihre Zunge nicht verknotet bei dem Tempo. Auch beim Scat ist sie extrem flink, und wie sie Bach interpretiert, erinnert im ironischen Gestus ein wenig an die Schweizer Stimmakrobatin Erika Stucky. Von dieser ist Bertault allerdings noch ein gutes Stück entfernt, ebenso wie vom französischen Energiebündel Zaz: Bertaults Stimme setzt sich nicht immer durch, der Funke springt nicht immer über. (ha)

Kopfkino mit Uhrwerk

Ein Musiker der „Spanish Night“ am Sonntag immerhin ist Iberer: Der Pianist Daniel Dorantes taucht im Duo mit dem französischen Kontrabass-Virtuosen Renaud Garcia-Fons tief ein in die stets dramatische spanische Musik. Garcia-Fons bringt den Bass zum Singen und die Töne zum Tanzen, Dorantes erweist sich als lyrischer Romantiker. So spielen sie sich Bälle zu und klopfen auch mal auf ihre Instrumente, wo beim Flamenco gerne gegenläufig geklatscht wird.

Viel weiter fasst den Bogen mit einem deutschen Sextett der Schlagzeuger Wolfgang Haffner, der immer fein gestaltete Programme zu den Jazztagen mitbringt. „Kind of Spain“ heißt treffend sein aktuelles Album, auf dem spanische Motive, etwa von Vicente Amigo oder Chic Corea, als Basis für Stücke dienen, die mitunter filmmusikalisch anmuten und das Kopfkino anwerfen.

Findig erweckt Haffner Trommeln und Becken zum Leben, er dirigiert den Abend wie ein Uhrwerk, aber eines, das mit Zeit und Raum spielt und eine intuitive Dynamik vorgibt. Die exzellente Band ist perfekt orchestriert, dem Pianisten Roberto Di Gioia perlen die Noten nur so aus den Fingern, Christopher Dell öffnet auf dem Vibrafon Horizonte, Christian Diener formt geschmeidig Themen auf dem E-Kontrabass, Daniel Stelter setzt mit glockigem E-Gitarrenton Akzente, Sebastian Studnitzky tupft magische Trompetentöne in den Saal. Das begeisterte Publikum möchte diese Band gar nicht gehen lassen. (ha)

Sternschnuppen

Überhaupt zeigt sich der Jazz am Ostersonntag in allen Farben schillernd und auf Pfaden, die mitunter ins Freie und auch in karges Gelände führen, aber dann in überraschend sich öffnende Klanglandschaften mit strahlenden Harmonien. Bei Heinz Sauer, 85, am Tenorsaxofon und Jasper van’t Hof, 70, an Flügel und Synthesizer trifft raue Schönheit auf oft zu hart perlendes, sich gern hymnisch steigerndes Tastenspiel.

Im Klanguniversum des Altmeisters Karl Berger und seines zwölfköpfigen Improvisers Orchestra dreht sich alles um den kollektiven Sound, in dem Einzelstimmen aufleuchten wie Sternschnuppen: der Flügelhornist Enrico Rava, die Holzbläser Bernd Konrad und Gerhard Ullmann, der äußerst variable Cellist Ernst Reijsiger, und Bergers Frau, die Vokalistin Ingrid Sertso. Intuitive Kommunikation, das Wechselspiel von sparsam gesetzten Klangtupfern und komplexen Tutti sind Charakteristika von Bergers multikulturellem Orchester für Kenner. (stai)

In dieser Ballung gibt es so viele Facetten des Jazz selten zu hören – ein Festival ohne Zugpferde aus dem Pop bleibt ein Wagnis. Das Stuttgarter Publikum honoriert es: In vielen Gesprächen im Foyer ist zu hören, wie zufriedene Besucher dem Theaterhaus das Kompliment zurückgeben.