Die Schule der Sentimentalität: Jeff Lynnes Electric Light Orchestra hat in der SAP Arena in Mannheim 10 000 Besucher mit Hits wie „Telephone Line“, „Don’t bring me down“ oder „Roll over Beethoven“ betört.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Mannheim - Während blaues Scheinwerferlicht durch die Halle huscht, die Streicher jauchzen, der Falsettchor seufzt und gleich mehrere Gitarren und Keyboards eine rührselige Harmonie nach der anderen auftun, steht vorne auf der Bühne ein unscheinbarer Mann und spielt den traurigen Romantiker, der am Telefon Selbstgespräche führt. Weil keiner am Ende der Leitung rangehen will, schüttet er dem Tut-tut des Freizeichens sein Herz aus. Er erzählt ihm von der Einsamkeit, von der Liebe, die ihm jetzt auf einmal wie ein Traum vorkommt, er gibt zu, dass er Angst hat, dass dieser Traum vorbei sein könnte, wenn tatsächlich sein Anruf noch angenommen wird – und fleht das Telefon darum an, doch einfach noch ein bisschen weiter zu klingeln.

 

Wenn Beethoven auf Chuck Berry trifft

„Telephone Line“ heißt dieser Song, der den 10 000 Besuchern des Konzerts von Jeff Lynne und seinem Electric Light Orchestra am Dienstag in der Mannheimer SAP Arena den sentimentalsten Moment des Abends beschert. Zum Abschluss seiner Deutschlandtour hat der 70-jährige mit seiner zwölfköpfigen Band, zu der auch zwei Cellistinnen, eine Violinistin und zwei Backgroundsänger gehören, so viele Hits wie nur irgendwie möglich in den eineinhalbstündigen Auftritt gepackt. Er hat knackige Versionen von „Evil Woman“, „Shine a little Love“ oder „Don’t bring me down“ im Programm, entzückt und rührt mit „Mr. Blue Sky“, „Livin’ Thing“ oder „All around the World“, schafft aber auch Platz für neuere Nummern wie „When I was a Boy“ oder das mit Byrds-Gitarren verzierte „Handle with Care“ – einen Song, den er vor 30 Jahren mit George Harrison, Bob Dylan, Roy Orbinson und Tom Petty aufnahm, als sie sich gemeinsam die Traveling Wilburys nannten. Und als Zugabe spielt die Band ihre berühmte Version von Chuck Berrys „Roll over Beethoven“, die den Rock’n’Roll-Klassiker mit dem Ta-ta-ta-taaa aus Beethovens fünfter Sinfonie aufmischt.

Soundtrack für sentimental veranlagte Teenager

Wer seine Jugend in den 1970er und 1980er Jahren verbracht hat, lernte damals zu der Musik von Jeff Lynne und seinem Electric Light Orchestra (kurz: ELO) zu weinen, zu schwärmen, zu schwelgen. Wenn man sich einsam fühlte, wenn einem gerade das Herz gebrochen wurde oder wenn der Alltag einfach nur unerträglich trist wirkte – stets bot sich dieser Sänger mit seinen gefühlvoll-opulenten Popsuiten als Seelenverwandter sentimental veranlagter Teenager an, der ihnen klar machte: Ihr seid nicht allein.

Dabei hat immer geholfen, dass Lynne, der 1947 im britischen Birmingham geboren wurde, eher wie ein Wuschelkopf-Nerd als wie ein Popstar aussieht. Auch beim Konzert in Mannheim stellt er als notorischer Sonnenbrillenträger nicht seine Coolness aus, sondern versteckt dahinter seine Schüchternheit. Zwischen den Liedern sagt er kaum etwas, sogar die Vorstellung der Bandmitglieder überlässt er lieber seinem Gitarristen. Stattdessen steht Jeff Lynne meistens im Schatten der virtuosen Licht- und Videoshow, verbirgt sich in seinen Liedern, die auch im Jahr 2018 noch unfassbar schön sind. Was auch daran liegt, dass seine Songs immer schon so klangen, als ob sie irgendwie aus der Zeit gefallen wären.

Disco verträgt sich mit Rock’n’Roll

Den ideologischen Graben, der sich in den 1970er Jahren auftat, als sich die einen Kids für den rüden Charme des Rock’n’Roll entschieden und die anderen dem Disco-Glitzern verfielen, übersprang und überspringt Lynne jedenfalls einfach, bringt in Mannheim in Songs wie „Turn to Stone“ oder „Sweet talkin’ Woman“ knurrige Gitarrenriffs und glamouröse Tanzgrooves zusammen, vermengt sie mit wunderbaren Melodien und tunkt sie in watteweiche Harmonien. Wer da am Ende der Show nicht sentimental nach Hause ging, ist entweder zu jung oder hat kein Herz.