Mexiko versinkt in einem Strudel der Gewalt. Nicht nur in den Millionenstädten, sondern auch in abgelegenen Dschungeldörfern herrschen die Drogenbanden. Zu ihren Opfern zählen junge Mädchen wie Ladydi, die Hauptperson in Jennifer Clements „Gebete für die Vermissten“.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Ein Buch von einer Frau, das in erster Linie von Frauen handelt. Von Frauen, die vom Schicksal nun wirklich schwer gebeutelt werden. Ein Frauenbuch also, im Sinne von Alles-bloß-kein-Männerbuch? Mitnichten. Denn Jennifer Clements „Gebete für die Vermissten“ bietet – etwas platt gesprochen – für beide Zielgruppen was. Das liegt nicht nur am angedeuteten Krimi-Element, am exotischen Schauplatz Mexiko und an der abenteuerlichen Odyssee der Hauptperson. Sondern es liegt daran, dass die Autorin eine in jahrelanger Arbeit recherchierte Zustandsbeschreibung des lateinamerikanischen Landes liefert, die weit über Mexiko hinaus von Relevanz ist.

 

Auf der Jagd nach Mädchen

Clement erzählt die Geschichte von Ladydi, einem Mädchen, das aus ganz anderen als naheliegenden Gründen nach der britischen Prinzessin benannt wurde. Ladydi wächst in einer nahezu reinen Frauengesellschaft auf. Die Männer des gottverlassenen Dorfes sind illegal in die USA ausgewandert, außer ein paar Jugendlichen gibt es nur noch Lehrer, die ein freiwilliges Jahr in der Provinz abreißen – und natürlich die Mitglieder der Drogen- und Menschenhändlermafia, die wie aus dem Nichts mit ihren schwarzen SUVs auftauchen.

Sie sind auf der Jagd nach Mädchen, weshalb die Mütter ihre Töchter möglichst hässlich herumlaufen lassen und sogar darüber nachdenken, ihnen zum eigenen Schutz die Zähne einzuschlagen. In Erdlöchern werden die Mädchen versteckt, wo sie in Gesellschaft von tödlichen Skorpionen warten müssen, bis die Gefahr vorüber ist.

Die Allgegenwart von Skorpionen, Riesenameisen und Giftschlangen steht für die Allgegenwart der Gewalt, in der das Land versinkt. Wer kann, ergreift die Flucht. Und auch für Ladydi scheint eine Stellung als Hausangestellte in Acapulco ein Ausweg aus dem Elend zu sein. Für kurze Zeit findet sie dort sogar ein, wenn auch nicht geraubtes, so doch ergaunertes Glück: materielle Unabhängigkeit, einen Liebhaber, Sicherheit. Doch die Schatten der Vergangenheit – für die sie nicht einmal etwas kann – holen sie ein. Sie landet wegen Mordverdachts in einem berüchtigten Frauengefängnis.

Brüchige Solidarität

Wie es ihr dort ergeht und wie die brüchige Solidarität unter den Insassinnen funktioniert, gehört zu den großen Momenten des Buches, das die Tatsachen einer von Drogenbanden regierten Gesellschaft schildert, ohne aber gleich alle Hoffnung fahren zu lassen. Und sei sie noch so unrealistisch.

Jennifer Clement: „Gebete für die Vermissten“. Roman. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 229 Seiten, 19,95 Euro. Auch als E-Book, 16,99 Euro; und als Hörbuch-Download 12,99 Euro.