Wie man respektvoll mit Menschen umgeht, zeigt John Neumeier in seinen Stücken und in seinem Handeln – und erhält dafür den Erich-Fromm-Preis 2017. Im Interview spricht er bekennende Christ auch darüber, ob die Welt besser wäre, wenn es keine Religionen gäbe.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)
Stuttgart – - Herr Neumeier, Glückwunsch, Sie haben den Erich-Fromm-Preis erhalten – auch dafür, dass Sie den Figuren Ihrer Ballette selbst im Scheitern Würde bewahren. Passiert das beiläufig aus der Grundhaltung des Menschen John Neumeier heraus oder ist das ein bewusster Vorgang?
Für mich ist die Inspiration zu einer Choreografie immer eine wahre Emotion. Wenn ich mich Figuren annähere – auch solchen, die aus großer Literatur kommen –, dann muss ich ihre Gefühle in mir selber finden. Ich kann ihrem emotionalen Zustand nur Form geben, wenn ich ihn in mir selbst erspüre. In meinen Balletten gibt es selten ausschließlich gute oder schlechte Figuren. Sie setzen sich aus unterschiedlichen Motivationen, Spannungen, Konflikten zusammen; nur so werden sie zu lebendigen Figuren, die glaubhaft sind und die aus einem ehrlichen Impuls kommen.
Sie setzen oft literarische Werke in Tanz um. Muss der würdevolle Umgang mit den handelnden Figuren in der Vorlage angelegt sein, damit Ihr Interesse geweckt wird?
Das Wichtigste ist, dass ich etwas von mir selber in diesen Werken spüre. Ich muss, auch wenn ich kein Mörder bin, diesen Impuls im kleinsten nachempfinden. Ich brauche die Wahrheit einer Situation, um zum Beispiel Anna Kareninas Entscheidung zu verstehen – die Entscheidung einer Frau und Mutter, die den eigenen Sohn zurücklässt. Das alles muss ich in mir spielen lassen, damit ich eine Form finde, um es darzustellen. Figuren, bei denen ich gar nichts spüre, interessieren mich nicht. Ich könnte zum Beispiel kein Ballett über Hitler machen, weil ich dem Weg zu dieser extremen Form von Menschenhass nicht folgen kann.
Wenn Sie zur Preisverleihung am Samstag eines Ihrer Ballette zeigen dürften: Welches würde einem Erich-Fromm-Preisträger besonders gerecht?
Das Ballett „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, vor allem der letzte Satz „Was mir die Liebe erzählt“. Ich erinnere mich, dass ich als Schüler in Amerika Erich Fromms Buch „Die Kunst des Liebens“ gelesen habe. Es sind Beschreibungen darin, die absolut den Bildern entsprechen, die ich in meinem Ballett zeige. Das 1975 entstandene Werk ist ein Klassiker im Repertoire des Hamburg Ballett, es wurde beispielsweise von Kompanien in Paris und Boston übernommen.
Erich Fromm war ein Mann des Wortes. Sie sind Choreograf, der im Tanz Zustände erspürt. Reichen Ihnen die Ausdrucksmöglichkeiten, die Ihnen zur Verfügung stehen, oder sind Sie manchmal versucht, zu Text zu greifen?
Es gibt in meinen Balletten auch Momente, in denen Tänzer sprechen. Aber ich habe keine literarischen Ambitionen, außer dass ich vielleicht einmal eine Autobiografie schreiben werde. Ballett ist etwas, das man nicht rational erlebt. Man kann nicht sagen: Ich habe ein Ballett verstanden, das wäre widersinnig, denn Ballett ist nicht dazu da, Information zu vermitteln. Das können Worte viel effektiver. Ein Ballett bietet eine ganz andere Ebene des emotionalen Erlebens, die man wiederum sehr schwer in Worte fassen kann.
Tänzer sind Künstler, die auf ihr Spiegelbild fixiert sind. Wie vermeidet man da Eitelkeit, Berufsblindheit und sensibilisiert sich für die Welt außerhalb des Spiegels?
Indem man um sich schaut und sich nicht als das Wichtigste begreift. Indem man sich informiert, was draußen passiert und das auf seine Arbeit bezieht. Indem man bei der Probenarbeit Parallelen zwischen einem Klassiker und dem dem politischen Weltgeschehen aufzeigt. Indem man die Dinge, die in der Welt passieren, wirklich ernst nimmt und so viel tut, wie man kann, um sie positiv zu verändern. Jeder Mensch hat dazu andere Möglichkeiten. Meine ergeben sich aus der Arbeit als Choreograf.
Sie sind Gründer des Bundesjugendballetts, das am Hamburger Ballettzentrum beheimatet ist. Welche Aufgaben braucht eine solche Kompanie, um junge Tänzer auf einen guten Weg zu bringen?
Ganz wichtig ist dabei, jungen Menschen, die mit ihrer Ausbildung fertig sind, eine Brücke zu bauen zwischen ihrer Schulzeit und einer großen, professionellen Kompanie. Das Bundesjugendballett tritt deshalb an Orten auf, an denen die Kommunikation besonders wichtig ist und wo man sonst kein Ballett finden würde. Es kommuniziert mit Menschen, die sonst kein Ballett sehen würden. Und es realisiert soziale Projekte, bei denen es mit behinderten Kindern arbeitet oder Blinden Tanz vermittelt. Das sind Erfahrungen, die die Mitglieder des Bundesjugendballetts zu reiferen Menschen machen – und zu humaneren Tänzern.