Sekten, Sex-Bomben und die Sucht nach Ruhm: der neue Roman von Jonathan Franzen handelt von der Macht der Liebe und des Internets.

Stuttgart - Unschuld“ ist der neue, große Roman von Jonathan Franzen, aber stellenweise wechselt das Buch auch das Genre. Der Amerikaner scheut dabei vor riskanter Nähe zu den unterschiedlichsten Formen niederer Gebrauchsprosa nicht zurück – darunter der Poesie nicht geradezu verdächtige literarische Gattungen wie die nüchterne wissenschaftliche Beschreibung oder, selbst das, die gute, alte Schulbuchprosa. So wenn er – Geographie, Mittelstufe – Pip Tylers Duftsensationen im bolivianischen Urwald schildert und die Beschreibung der olfaktorischen Sinneswahrnehmungen zur kleinen Vegetationskunde des südamerikanischen Landes gerät. Oder wenn er sich – Biologie, 5. Klasse – auf einer ganzen Seite über die amerikanische Braunrücken-Grundammer auslässt: Aussehen, Ernährungsgewohnheiten, typisches Verhalten der hauptsächlich in Kalifornien vorkommenden Vogelart. Zwar geht es im Kontext um die heimatlichen Gefühle, von denen Pip, die als Kind die Ammern so gern beobachtete, erfüllt ist. Aber eine komplette vogelkundliche Seite wirkt an der Stelle dann doch etwas überdimensioniert.

 

Sie wäre schlechterdings unmotiviert, wiese die seltene Spezies nicht ein bedeutsames Merkmal auf: die lebenslange monogame Beziehung von Männchen und Weibchen und somit ein Verhaltensmuster, das in dem Buch dezent als Kontrastfolie für die misslungenen Ehen und gestörten Beziehungen dienen kann; als Ideal, dem der Roman – allen Einsichten in die Aporien und Antinomien von Geschlechterbeziehungen unter den Bedingungen der modernen Welt zum Trotz – am Ende dann doch insgeheim das Wort zu reden scheint. Die Schilderung der Hassliebe zwischen Pips Eltern, des ausweglos kreisenden Automatismus’ ihrer wechselseitigen Vorhaltungen und Vorwürfe etwa zählt zu den Glanzstücken des Romans, „perfekt asynchron“ reden sie aneinander vorbei.

Beziehungen haben hier einen schweren Stand

Vor dem Hintergrund der lange zurückliegenden katastrophalen Wendung dieser Beziehung – Anabel war, als sie sich schwanger fühlte, aus Tom Aberants Leben verschwunden, Pip wuchs ohne Vater auf – kann selbst das Geschrei der sich zankenden Ex-Gatten auf der allerletzten Seite des Buchs als freilich ernüchternde Form eines Happy Ends durchgehen. In Toms Partnerschaft mit Leila, die sich von dem querschnittsgelähmten Charles infolge von Schuldgefühlen nicht scheiden lässt und mit Tom „dauerhaft provisorisch“ zusammenlebt, sind Streit und Unfriede eine nur mühsam unter Kontrolle gehaltene ständige Drohung. Und auch Pip gelingt keine dauerhaft glückliche, ja nur annähernd befriedigende Beziehung. Erst die jüngste zu Jason gibt Grund zur Hoffnung.

Pip ist der Spitzname der jungen Frau, die eigentlich Purity heißt; im amerikanischen Original ist der substantivische Name Titel des Buchs. Denn um Reinheit, Lauterkeit, Unschuld geht es neben den auf je eigene Weise misslingenden Beziehungen zentral in dem Buch: die Adornosche Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen oder, in ethischen Begriffen, die Unmöglichkeit, unbefleckt von Schuld durchs Leben zu gehen.

Abgründiger Robin Hood des Internets

Womöglich verdankt sich der Umstand, dass die Figuren voll gepfropft mit Schuldgefühlen sind, einer besonders hohen Moralität. Vielleicht aber dokumentiert sich darin eben auch ein unentrinnbarer gesellschaftlicher Schuldzusammenhang. Jedenfalls waren es Schuldgefühle, die Tom als Ehemann der frauenbewegten Veganerin Anabel zum Feministen und Vegetarier machten. Leila wiederum fühlt sich schuldig gegenüber Tom und Charles; die rechtschaffene Pip empfindet großzügig Schuld gleich gegenüber allen.

Auch gegenüber Andreas Wolf. Trotz seiner „wunderbar blauen Augen“ ist Wolf eine mephistophelische Gestalt von schillernder Abgründigkeit. Als privilegierter Sohn eines Ministers in der DDR aufgewachsen, gelingt es ihm, sich in den ersten Tagen der Wende als Bürgerrechtler aufzuspielen – ein im selben Maß erschlichener Status wie im Grunde sein späterer Weltruhm als Robin Hood des Internets. Den genießt er als Ertrag der Aktivitäten seines in Bolivien ansässigen Sunlight Projects, einer sektenartigen Hacker-Vereinigung zum Zwecke politischer Enthüllungen. Der Weltöffentlichkeit gilt der Frauenschwarm als Heilsbringer und Lichtgestalt auf Augenhöhe mit Aung San Suu Kyi oder Bruce Springsteen. Dabei ist der Mädchenversteher, der zu DDR-Zeiten seine Macht über Minderjährige für seine sexuelle Vorliebe für jungfräuliche Jugendliche ausnützte, bloß sexbesessen und ruhmesgeil – und hätte Grund für die ärgsten Schuldgefühle.

Heimlichsten Seelenregungen auf der Spur

Wolf lockt Pip nach Los Volcanes, um sie gegen Tom auszuspielen – der, was sie nicht weiß, ihr Vater ist und der Wolf in der Hand hat, weil er um ein dunkles Geheimnis in seinem Leben weiß und sein Ansehen, seine „Internet-Persona“ (zweifellos ist der lateinische Begriff hier in der Bedeutung von „Maske“ zu verstehen) zerstören könnte. Doch Wolf verliebt sich in Pip – und wird von ihr abgewiesen. Paranoia und Hass lassen ihn eine teuflische Intrige gegen Tom und Pip spinnen. Dass die am Ende fehlschlägt, ja die Dinge für Pip und ihre Eltern zum Besseren lenkt, löst das faustische Motto des Romans von jener Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, ein.

„Unschuld“ ist ein Buch über die Notwendigkeit (und Unmöglichkeit) der Liebe, die Macht des Internets und die Naivität seiner Nutzer; über Sekten und Sex-Bomben, falschen Ruhm und einen echten Mord: vielsträngig, spannend und erfrischend geistreich erzählt, wenn auch an manchen Stellen ein wenig ausufernd, um nicht zu sagen geschwätzig – worüber auch selbstironische Passagen wie die über die Dickleibigkeit heutiger Romane oder die Häufigkeit des Vornamens Jonathan bei zeitgenössischen amerikanischen Romanautoren nicht hinwegtäuschen können.

Ein Beschreibungsvirtuose obersten Rangs, der uns mit wenigen Strichen, bisweilen auch – Toms „Schildkrötenmund“! – mit einem einzigen Wort bildlich einen vollständigen Menschen vor Augen zu zaubern vermag, ist Franzen zugleich ein Psychologe erster Güte, der den Knoten der heimlichsten Seelenregungen seiner Figuren mit ruhiger Hand aufdröselt wie einst Dr. Freud. Gerade hier, auf seinem ureigensten Gebiet – der Psychologie – ergeben sich beträchtliche szientifischbelletristische Schnittmengen und ist die gesuchte Wissenschaftsnähe des Romans am Platz.